Zeitbilder 5/6, Schulbuch
L Auch jene Magyaren, die sich gegen die repub- likanischen Ideen Kossuths immun zeigten und an der Dynastie Habsburg-Lothringen festhielten, verlangten zumindest die Wiederherstellung der alten Rechte des Königreiches Ungarn. Es bildeten sich Geheimgesellschaften, sie wurden ausgehoben und ihre Mitglieder wanderten in die Gefängnisse. Aber kaum hatte man die eine entdeckt, so wurde eine neue gegründet. Die Behörden setzten für jede Verhaftung eine Prämie aus und trieben so Polizei und Gendarmerie zu immer schärferen Maßnahmen. 1856/57 wurden auf diese Weise in Ungarn binnen drei Monaten 342 000 Kriminalfälle registriert. (Görlich/Romanik, Geschichte Österreichs, 1970, S. 417) Was bedeutet diese Zahl bei einer (geschätzten) Ge- samtzahl von 5,5 Millionen Magyaren im Kaisertum Österreich? Schon 1867 waren die Verhandlungen abgeschlos- sen. Ihr Ergebnis war der so genannte Ausgleich, ein Vertrag zwischen Franz Joseph und dem ungarischen Reichstag; die westliche Reichshälfte hatte zu diesem Zeitpunkt nämlich noch keine Verfassung und daher auch keinen Reichsrat. Den Forderungen der Ungarn, die von Kaiserin Elisa- beth starke Unterstützung erhielten, wurde schließlich weitgehend entgegengekommen. Noch 1867 trat der „Ausgleich“, ein Vertrag zwischen Franz Joseph und dem ungarischen Reichstag, in Kraft. Der Nationalitätenstreit Die Folgen des Ausgleichs beurteilt der Historiker Ernst Joseph Görlich folgendermaßen: L Die Ursache, dass sich dieser Dualismus in den nächsten Jahrzehnten für die habsburgische Doppelmonarchie verhängnisvoll auswirkte, lag nicht darin, dass er Ungarn seine alten Rechte zurückgab, sondern dass die anderen Völker der Monarchie zu Nationen zweiter Klasse degradiert wurden. (…) Der geheime – auch offen ausgesprochene – Gedanke des Dualismus war, dass in der westlichen Reichshälfte die deutschsprachige österreichische Bourgeoisie, in der östlichen (ungarischen) Reichshälfte der mag- yarische Adel und die magyarische Gentry die herr- schende Klasse, das „Herrenvolk“, darstellen sollte. (Görlich, Grundzüge der Geschichte der Habsburgermonarchie und Österreichs, 1988, S. 232) Der Wiener Hof hatte durch sein Nachgeben den Un- garn gegenüber vor allem die Einheit der Monarchie er- halten wollen. Die übrigen Volksgruppen waren jedoch leer ausgegangen. Sie waren deshalb schwer enttäuscht. Sie wünschten sich eine ähnliche Regelung, wie sie Un- garn zugestanden worden war. Diesbezügliche Versu- che wurden meist schon in ihren Ansätzen von deutsch- nationalen und magyarischen Kräften vereitelt. Diese fürchteten nämlich den Verlust ihrer Vorrangstellung. So entwickelten sich die Emanzipationsbestrebungen der Nationalitäten sehr schnell zu einem Kampf um die Macht im Staat. Diese Auseinandersetzung mündete schließlich in einen Kampf der Nationalitäten unterein- ander und gegen den Staat. Die zentrifugalen Kräfte im Vielvölkerstaat – verstärkt durch die allgemeine Tendenz zum Nationalismus – traten in den letzten Jahrzehnten der Habsburgerherr- schaft immer stärker hervor: Die Deutschen mussten nach dem Ausgleich erken- –– nen, dass sie im eigenen Staat gegenüber den Slawen eine Minderheit darstellten. Nationalistische Kräfte, die z. T. sogar für einen Anschluss an das Deutsche Reich eintraten, waren beim Mittelstand und beson- ders in den gemischtsprachigen Ländern sehr popu- lär. Die Ungarn betrieben gegenüber den anderen Völ- –– kern in den Ländern der Stephanskrone eine Politik der Magyarisierung. Ein System von Zwangsmaßnah- men und Begünstigungen beraubte die Minderheiten ihrer Intelligenzschicht. Viele ungarische Intellektuel- le forderten außerdem immer lauter die völlige Unab- hängigkeit von Österreich. Die Serben, Kroaten und Slowenen lehnten die ma- –– gyarische Vormachtpolitik ab. Ihr Ziel war zunächst ein eigener Ausgleich. Manche wünschten auch die Gleichstellung mit Österreich und Ungarn im Zuge einer „trialistischen Lösung“ anstelle des Dualismus. Vereinzelt wurde auch hier schon ein eigener Staat gefordert. Die Polen hofften auf die Wiedererstehung eines ei- –– genen Staates. Die Ruthenen wollten sich mit den üb- Die Österreichisch-Ungarische Monarchie von 1867 Gemeinsame Ministerien Realunion: k. u. k. Außenministerium Kriegsministerium alle 10 Jahre „Ausgleich“ der gemeinsamen Staatsfinanzen für Außen- und Kriegsministerium Personalunion Franz Joseph I. ist Kaiser von Östereich und König von Ungarn (österreichische Reichshälfte) (ungarische Reichshälfte) in der k. u. k. Monarchie („Doppelmonarchie“) österreichische Reichshälfte 70 % der gemeinsamen Kosten Österreichische Regierung eigene Ministerien (k. k.) Österreichischer Reichsrat ungarische Reichshälfte 30 % der gemeinsamen Kosten Ungarische Regierung eigene Ministerien (m. k.) Ungarischer Reichstag Der „Ausgleich“ von 1867 machte aus dem einheitlichen Erbkaiser- tum Österreich die Österreichisch-Ungarische Monarchie. 265 Österreich im Mittelalter und in der Neuzeit 7 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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