Zeitbilder 5/6, Schulbuch
7. Kinderarbeit Kinderarbeit von der Industrialisierung bis heute „Kindheit“ als eigener Lebensabschnitt entwickelte sich histo- risch gesehen erst langsam seit der Aufklärung. Bis dahin sah man Kinder vorrangig als kleine Erwachsene an. Sie sollten daher schon früh an regelmäßige Arbeit gewöhnt werden. Ihre Mitarbeit in der Landwirtschaft und im Gewerbe war für die meisten Familien zum Überleben dringend notwendig. Mit dem Einsetzen der Industrialisierung wurden sie daher ganz selbst- verständlich als Arbeitskräfte in Fabriken eingesetzt. Manche Kinder mussten dort schon ab etwa 6 Jahren unter oft schreck- lichen Bedingungen schuften: Hitze oder Kälte in den Fab- rikshallen, Lärm, stickige Luft, schlechte Ernährung, zu wenig Schlaf und häufige Arbeitsunfälle schädigten die Gesundheit der Kinder massiv. Trotz der langen Arbeitszeit bekamen sie nur einen geringen Lohn. Viele erhielten keine Schulbildung und blieben in ihrer Entwicklung zurück. Zwar kritisierten immer wieder Einzelpersonen, darunter vor allem Lehrer, Priester und Politiker, diese Missstände. Es dauerte jedoch in Österreich bis 1885, bis die Arbeit von Kindern unter 12 Jahren im Gewerbe und unter 14 Jahren in Fabriken verboten wurde. In der Land- wirtschaft, dem damals größten Wirtschaftsbereich, wurden dazu keine Regelungen getroffen. 1989 wurde von der Generalversammlung der UNO die UN-Kin- derrechtskonvention angenommen. In diesem internationalen Vertrag werden jedem Kind grundlegende politische, soziale, ökonomische, kulturelle und bürgerliche Rechte zugesichert. Trotzdem arbeiten nach Schätzungen von UNICEF (dem Kinder- hilfswerk der Vereinten Nationen) heute weltweit über 150 Millionen Kinder zwischen 5 und 14 Jahren unter gesundheits- schädigenden Bedingungen. Kinderarbeit ist heute noch weit verbreitet, v.a. in Asien, Afrika und Lateinamerika. Im Folgenden werden zwei konträre Quellen aus dem 19. Jh. zum Thema Kinderarbeit gegenübergestellt: Kreishauptmann Ebner, damals der höchste Beamte in Vorarlberg, schrieb 1836 in einem Bericht (Q 1): Q Es war für den Unterzeichneten heute ein pein- licher (schmerzlicher, Anm.d.A.) Anblick, als er Ende Mai am frühesten Morgen um ½ 5 Uhr (…) schon den armen Kindern begegnete, welche in die Feldkircher Fabriken eilen mussten, um ja Schlag ½ 6 in der Frühe pünktlich dort einzutreffen und bis ½ 8 Uhr abends in der Sommerszeit darin wie wahre Sklaven zu arbeiten. Vor 4 Uhr in der Frühe mussten diese bedauernswerten Geschöpfe schon aus dem Schlafe geweckt werden, zu dem sie, da sie in Entfer- nungen bis 2 Stunden zur Fabrik wohnten, nicht vor 10 oder ½ 11 Uhr kommen konnten. Ein elendes Früh- stück und gleiches Nachtmahl sind ihre Labung und das Mittagsmahl besteht aus einem Stück Brot und Käse oder Obst, das sie während der Ruhestunde von 12 bis 13 Uhr auf freier Weite (im Freien, Anm.d.A.) verzehren können. Während dieser Zeit müssen alle (…) die Fabrik verlassen und sie haben nirgends ein Haus oder Lokal, in das sie sich begeben können. Das leichenblasse und ganz blöde Aussehen, Gesich- ter voller Runzeln wie alte Leute, ein ganz abgema- gerter mühsam fortgeschleppter Körper sind ebenso schreiende Beweise des harten Loses dieser (Kinder)- Arbeiter (…) Arme Leute sind froh, die Kinder so jung als möglich in die Fabrik zu schicken, damit sie etwas verdienen, und die Fabrikanten sind froh, so junge Arbeiter als möglich zu bekommen, dann sind sie um so wohlfeiler. Armuth und Eigennutz bieten sich also die Hand, um diese unreifen Geschöpfe recht eigent- lich auszubeuthen. ( zit. nach: Manfred Scheuch, Geschichte der Arbeiterschaft Vorarl- bergs bis 1918, 2. Aufl., Wien 1978, S. 38 und S. 36) Auf eine kritische Anfrage zum Thema „Kinderarbeit“ antwortete der Bürgermeister und Unternehmer Chris- tian Mutter aus Bludenz 1852 (Q 2): Q In den Spinnfabriken in hiesiger Gegend werden die Kinder (…) weder zu früh noch zu übermäßi- gen Arbeiten in den Fabriken angestrengt, es werden (…) nur solche jugendliche Kinder außer der Schul- zeit in Arbeit genommen, für welche besonders um Arbeit angesucht wird und welche die Zustimmung des Herrn Pfarrers und Schulinspektors beibringen. Übrigens ist die Arbeit ganz leicht, sie besteht in Fä- denansetzen (…) , die Arbeitszeit besteht täglich von 6 Uhr früh bis abends 8 Uhr mit Unterbrechung einer Ruhestunde um die Mittagszeit, wogegen in Unterös- terreich die Arbeitszeit 15 Stunden beträgt. Eine Ab- kürzung bei eint oder andern Arbeit ist nicht ausführ- bar, weil die Arbeit vom kleinsten bis zum größten so ineinander greift, dass bei Aussetzung eint oder anderer Arbeiter eine Stockung des Ganzen herbei geführt würde. Es lassen sich daher keine andern Verfügungen treffen. (zit.nach: Manfred A. Getzner, Getzner, Mutter & Cie, Bludenz und die Entwicklung der Textilindustrie im Vorarlberger Oberland, Feldkirch o.J., Teil B, S. 48) W Kinderarbeit in einer Spinnerei in North Carolina (USA), Foto, um 1907/8 (Lewis W. Hine). 210 Politische Bildung – Kompetenztraining Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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