Zeitbilder 5/6, Schulbuch
5. Folgen der Industrialisierung – die Soziale Frage Der Wandel in der Gesellschaftsordnung Der Eintritt in das Industriezeitalter verursachte einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel: In der vorin- dustriellen Agrargesellschaft hatte der grundbesitzende Adel die Führungsposition inne. In der Industriegesell- schaft übernahm das Kapital besitzende städtische Bür- gertum diese Rolle. Die Basis der neuen Gesellschafts- ordnung bildete der neue, zahlenmäßig starke „Vierte Stand“, die (Industrie-)Arbeiterschaft. Die entwürdi- gende soziale und wirtschaftliche Lage dieses Standes wurde zum gesellschaftspolitischen Problem des 19. Jahrhunderts, zur Sozialen Frage. Der explosionsartige Anstieg der Stadtbevölkerung Das schon im 18. Jh. einsetzende Bevölkerungswachs- tum nahm im Lauf der Industriellen Revolution deut- lich weiter zu. Dafür gab es mehrere Ursachen: Die Fortschritte in Medizin und Hygiene, die bessere Nah- rungsmittelversorgung, aber auch die so genannte Bau- ernbefreiung und die Gewerbefreiheit. Nun war es den Untertanen erlaubt, ihren Wohnsitz und ihren Beruf frei wählen; vor allem aber: Sie brauchten keine Erlaubnis mehr zur Heirat einholen! Damit erhöhten sich die Ge- burtenzahl und die Zuwanderung in die Städte. Viele Bäuerinnen und Bauern verkauften nämlich ihr klei- nes, oft unrentables Stück Boden. Auch die ländlichen Heimarbeiter/innen waren mit ihren Produkten gegen- über den billigeren Fabrikerzeugnissen nicht konkur- renzfähig. So trieb die wachsende Armut die Masse der ländlichen Bevölkerung in die z. T. neu gegründeten, explosionsartig anwachsenden Industriestädte (= Land- flucht). Dort war ihre Lebenssituation jedoch oftmals noch schlechter: Sie wohnten in Elendsquartieren und Hunger war ihr ständiger Begleiter. Millionen von Menschen, die auch in den Städten keine Überlebenschance sahen, wanderten im Laufe dieses Jahrhunderts nach Übersee, hauptsächlich in die USA, aus. Die industrielle Reservearmee Nach Auffassung der klassischen Nationalökonomie galt die Arbeitskraft als Ware, deren Preis sich nach An- gebot und Nachfrage richtete. Das Überangebot an Ar- beitskräften (die „industrielle Reservearmee“) erlaubte es deshalb den Unternehmern, die Löhne oft bis unter das Existenzminimum zu senken. Die Unternehmer hat- ten auch andere Argumente für die Hungerlöhne: Die Ware müsse wegen der großen Konkurrenz billig sein, der rasche technische Fortschritt verlange kapitalinten- sive Investitionen! Arbeiter/innen, die wegen der niedrigen Löhne murrten oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeits- fähig waren, wurden durch andere ersetzt, die vor dem Fabriktor um Arbeit bettelten. Die durchschnittliche Ar- beitsfähigkeit in den englischen Industriestädten betrug 15 Jahre, das Durchschnittsalter der Industriearbeiter/ innen von Manchester lag bei 18 Jahren. Keine Sozialgesetzgebung, kein Arbeiterschutz Es herrschte strengste Arbeitsdisziplin. Wer nur zehn Minuten zu spät am Arbeitsplatz erschien, erhielt mitun- ter einen halben Tageslohn abgezogen; war ein Produkt fehlerhaft, musste die Arbeiterin oder der Arbeiter Strafe zahlen. Es gab keine Altersversorgung, keine Unfallver- sicherung und keinen Schutz gegen unternehmerische Willkür. Die staatliche Obrigkeit griff in die „freie Wirt- schaft“ nicht ein. Polizei und Militär kamen nur dann zum Einsatz, wenn es galt, Arbeiterunruhen und Hun- gerdemonstrationen niederzuschlagen. Entsprechend schlecht waren auch die Arbeitsbedingungen: Verlänge- rung der täglichen Arbeitszeit (bis zu 18 Stunden), kei- ne Sonntagsruhe, katastrophale hygienische Zustände sowie unzureichende bzw. fehlende Sicherheitsvorkeh- rungen (und daher auch viele Arbeitsunfälle). Schuld an diesem Elend waren aus der Sicht der Ar- beiter vor allem die neuen Maschinen, die gerade in Soziale Frage im 19. Jahrhundert Überlange Arbeitszeit; Niedriger Lohn; Fehlende Sicherheitsvorkehrungen; Abhängigkeit vom Unternehmer – inhumane, entfremdete Arbeit – gesundheitliche Schäden – Auflösung der Familie – Wohnungselend – keine soziale Sicherheit (Krankheit, Unfall, Alter) – soziale und politische Deklassierung Konkurrenz; Frauen- und Kinderarbeit Leben am Existenzminimum; Armut, Hunger Elendsquartiere Politische Rechtlosigkeit; Streik- und Koalitionsverbot Bevölkerung großer europäischer Städte 1800–1910 (in 1 000) 1800 1850 1880 1910 Amsterdam 201 224 317 567 Berlin 172 419 1122 2 071 Budapest 54 178 371 880 Glasgow 77 345 587 784 Hamburg 130 132 290 932 Konstantinopel 600 – – 1 200 Kopenhagen 101 127 235 462 Liverpool 82 376 553 746 London 1 117 2 685 4 770 7 256 Madrid 160 281 398 572 Manchester 75 303 341 714 Moskau 250 365 612 1 481 München 40 110 230 595 Paris 547 1 053 2 269 2 888 Prag 75 118 162 225 Rom 153 175 300 539 St. Petersburg 220 485 877 1 907 Warschau 100 100 252 856 Wien 247 444 726 2 030 W (Britische Städte: B. R. Mitchell und Phyllis Deane, Abstract of Bri- tish Historical -Statistics, Cambridge 1962) (Andere Städte: Das französische Annuaire Statistique 1966) 204 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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