Zeitbilder 5/6, Schulbuch

England: Adel und Bürgertum setzen die Wirtschaftsfreiheit durch Im Gegensatz zu Kontinentaleuropa hatte sich in Eng- land seit dem 17. Jh. die ständische Ordnung gelockert: Kleinadel und besitzendes Bürgertum waren durch Hei- raten miteinander verbunden. Sie konnten auch poli- tisch mitbestimmen. Als Eigentümer von (Groß-)Grund- besitz und Kapital waren sie im Parlament vertreten, das seit der Glorreichen Revolution im Jahre 1688 (vgl. S. 159) entscheidend an der Gesetzgebung mitwirkte. Während auf dem europäischen Festland die Herrscher absolut regierten und die Wirtschaft dem Staat völlig untergeordnet war (= Merkantilismus), setzten in Eng- land Adel und Bürgertum ihre politischen Freiheiten auch im Wirtschaftsleben durch: Es gab keine Wirtschaftsmonopole und auch die Zünfte wurden abgeschafft, die bisher den freien Wettbewerb in der Wirtschaft verhindert hatten. Der Staat überließ die Wirtschaft den privaten Unternehmern. Der grund- besitzende Hochadel investierte ohne Standesdünkel sein Kapital ebenso in Produktion, Handel und Gewer- be wie die Unternehmer aus dem Groß- und Kleinbür- gertum oder aus dem Bauernstand. Die Calvinisten fordern Fleiß und Sparsamkeit Der Kampf gegen die staatliche Bevormundung und für den wirtschaftlichen Liberalismus wurde vor allem von den Calvinisten (vgl. S. 136 f.) geführt, die in England viele Anhängerinnen und Anhänger hatten. Entspre- chend ihrer Religion gehörten Fleiß und Sparsamkeit zu einer gottgefälligen Lebensführung. Diese Einstellung galt ebenso für die Arbeiterschaft. Auch von ihr wurde größte Arbeitsdisziplin gefordert. Unter diesen Voraus- setzungen konnte sich auch die Wirtschaftsform des Ka- pitalismus rasch entfalten. Der berühmte deutsche Soziologe Max Weber interpre- tierte die calvinistische Wirtschaftsethik so: Q Das sittlich wirklich Verwerfliche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der Genuss des Reich- tums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Flei- scheslust. (…) Nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffen- barten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms. Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden (…). Zeitverlust durch Gesel- ligkeit, „faules Gerede“, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – 6 bis höchstens 8 Stunden – ist sittlich absolut verwerflich. (…) Der paulinische Satz: „Wer nicht arbeitet, soll nicht es- sen“, gilt bedingungslos und für jedermann. (Weber, Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist; in: Mickel u. a., Politik und Gesellschaft, Bd. 1, 1976, S. 117 f.) Wie steht ihr zu den „Tugenden“ Fleiß und Sparsamkeit? Wie ist deine Einstellung zur Arbeit? Was hältst du von einem Arbeitslosen-Grundeinkommen? 2. Der Wirtschaftsliberalismus „Eine freie Wirtschaft reguliert sich selbst!“ Die theoretischen Grundlagen der liberalen Wirschafts­ auffassung schuf der schottische Nationalökonom Adam Smith (1723–1790). Er forderte freien Markt und freien Wettbewerb (= Konkurrenzprinzip). Eine freie Wirt- schaft (nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage) würde sich wie die Natur immer wieder selbst regulie- ren. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, meinte Smith, würden nur die Initiative der Unternehmer, damit aber auch die Produktion, den Handel und somit den Wohl- stand eines Landes gefährden: Q Stets sind alle Menschen darauf bedacht, die für sie rentabelsten Anlagen ihrer Kapitalien ausfin- dig zu machen, d. h. diejenigen, in denen die höchs- ten Gewinne erzielt werden. Jeder glaubt, nur sein eigenes Interesse im Auge zu haben, tatsächlich aber erfährt so indirekt auch das Gesamtwohl der Volks- wirtschaft die beste Förderung. (…) Verfolgt er näm- lich sein eigenes Interesse, so fördert er damit indi- rekt das Gesamtwohl viel nachhaltiger, als wenn die Verfolgung des Gesamtinteresses unmittelbar sein Ziel gewesen wäre. Ich habe nie viel Gutes von de- nen gehalten, die angeblich für das allgemeine Beste tätig waren. (Smith, Untersuchungen über Natur und Ursprung des Volkswohlstan- des; in: Mickel u. a., Politik und Gesellschaft, 1976, S. 118) Inwiefern kann sich eurer Meinung nach das wirtschaft- liche Interesse einer einzelnen Person positiv auf die Gesamtwirtschaft auswirken? Könnte es auch negative Auswirkungen haben; wenn ja, welche? Beurteilt den letzten Satz von Smith – welche Personen könnte er gemeint haben? Kapitalanhäufung und Wirtschaftswachstum Smith teilte die Gesellschaft in verschiedene ökonomi- sche Klassen ein: Er unterschied zwischen Produzen- ten und Verbrauchern des Reichtums. Nur die Arbeit, bei der „greifbare“ Waren produziert werden, war für ihn produktive Arbeit. Dienstleistungen und Grundbe- sitz zählten für ihn nicht dazu. Für die Vermehrung des Wohlstandes war seiner Meinung nach vor allem der sparsame Unternehmer (= Kapitalist) verantwortlich, der sein Kapital möglichst gewinnbringend in die wei- tere Produktion investierte. Q Der jährliche Ertrag aus Land und Arbeit irgend- einer Nation kann in seinem Wert nur gesteigert werden, indem man entweder die Zahl der in der Produktion beschäftigten Arbeiter oder die Produk- tivkraft der schon Beschäftigten erhöht. Es ist ein- leuchtend, dass man die Zahl (…) der Arbeiter nie bedeutend erhöhen kann, wenn nicht vorher das Kapital oder die Geldmittel, die zu ihrem Unterhalt bestimmt sind, vermehrt werden. Die Produktivität 196 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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