Zeitbilder 5/6, Schulbuch
Die geringe Zahl der erfolgreichen Aufsteiger (ca. zwei Prozent der Bevölkerung) ahmte sehr häufig den luxuriösen Lebensstil des Adels nach (z. B. mit Landschloss, Mä- zenatentum in der Kunst; Neurei- che). Die kleinen Handwerker und Händler mussten jedoch, trotz stei- genden Lebensstandards, um das wirtschaftliche Überleben kämpfen. Die Aufhebung der Zünfte, die freie Berufswahl und die Gewerbefreiheit hatten nämlich einen Konkurrenz- kampf entfesselt, dem viele kleine Unternehmer zum Opfer fielen. Seit dem Durchbruch des Hochkapita- lismus kapselte sich die Bourgeoisie nach unten hin streng ab. „Wir soll- ten nur mit feinen Kindern spielen, nicht mit Gassenbuben“, berichtete ein „Sohn aus gutem Hause“ über diese bereits bei Kindern praktizier- te Abgrenzung. Die Ausbildung die- ser Kinder erfolgte im Gymnasium oder in einer (teuren) Privatschule. Sie wurde häufig an der Universität fortgesetzt, um auf künftige „höhere und staatstragende Aufgaben“ in Wirtschaft und Politik vorzubereiten. Auch Mädchen wurde endlich der Besuch höherer Schulen gestattet. Dennoch wurde von vielen Bürger- lichen eine möglichst gute Verheira- tung ihrer Töchter als deren wesent- lichstes Lebensziel angesehen. Mann und Frau in verschiedenen Aufgaben Mit der Verlagerung der produk- tiven Arbeit vom Haus zunächst in die Manufakturen und später in die Fabriken (industrielle Produk- tionsweisen) erfolgte die Trennung zwischen öffentlicher Arbeits- und privater Lebenswelt. Das brachte z. B. Folgendes mit sich: Der Mann lebte sowohl in der au- ßerhäuslichen Arbeitswelt, wo er erfolgreich sein sollte, als auch in der privaten, häuslichen Welt. Q In dem Augenblick, wo ich die Schwelle meines Hauses über- schreite, verlasse ich die Meinigen und gehöre der Welt, in der ich arbeite. In dem Augenblick, wo ich nach jener zurückkehre, wen- de ich mich zugleich von dieser arbeitenden Welt ab und gehöre dem Hause. (Urbanitsch, Von Bürgern und ihren Frauen, 1995, S. 128) Die bürgerliche Frau hingegen sollte für das Haus, die Familie und den Haushalt leben. In der intimen Häuslichkeit, „dem Hort der Freu- de“, sollte sie ihren vom Beruf ge- plagten Mann verwöhnen und die Kinder erziehen. Sie war der gute Engel des Hauses: die Ehefrau, Mut- ter und Herrin. Q Der eigentliche Beruf des Wei- bes wird zu allen Zeiten das Haus und die Ehe sein. Sie soll Kinder gebären und sie erziehen. Ihrer Familie soll sie den lauteren Quell ihrer fühlenden, liebevollen Seele spenden, Zucht und Sitte, Gottesfurcht und heitere Lebens- freude nähren und pflegen. (Nach: Ecker, Sozialgeschichte der Familie) Zur Organisation des großbürgerli- chen Haushalts hat die Frau Hilfen zur Seite: Köchin, Hausmädchen, Waschfrau. Die bürgerliche Kernfamilie – privat und intim Durch die Trennung von beruflicher und häuslicher (= privater) Welt wurde die Familie im Rahmen der bürgerlichen Entwicklung im Ver- laufe des 19. Jh. „privatisiert“. Sie wurde zur Kernfamilie (= Ehepaar mit den eigenen Kindern). Diese Familienform ist in den westli- chen Industrieländern heute noch vorherrschend. Das bürgerliche Familienleben war weiters charakterisiert durch: ein Einkommen weit über dem –– Existenzminimum, sodass Frau und Kinder keine Lohnarbeit ver- richten mussten – sie blieben zu Hause; das Idealbild einer „vernünfti- –– gen“ Liebesbeziehung in der Ehe anstelle der häuslichen „Wirtschaftsgemeinschaft“; die elterliche Verantwortung in –– der Kindererziehung – Kindheit wird bewusst als eigener Lebens- abschnitt gesehen. Dieses, von vielen Literaten idea- lisierte, bürgerliche Familienbild konnte sich allerdings nur das Großbürgertum wirklich „leisten“. Der Entdeckung der eigenen Ge- fühlswelt standen aber gerade auch bei der Bourgeoisie strenge, in Anstandsbüchern formulierte Ver- haltens- und Konversationsregeln, Tischsitten und typische Kleidung gegenüber. Sie sollten den Unter- schied zum Kleinbürgertum, mehr noch zur wachsenden Arbeiterschaft sichtbar machen. Gleichzeitig soll- ten sie aber auch den Zutritt, im besten Fall den Aufstieg zum Adels- stand ermöglichen. Wohnung einer großbürgerlichen Familie (Schulwandbild aus dem 19. Jh.). Welchen Eindruck vermittelt dieses großbürgerli- che Wohnzimmer? Welche Rollenverteilung könnt ihr erkennen? Was bedeutet die Trennung von Ar- beits- und Wohnstätte für die heutigen Lebensbe- dingungen? Was würde ihre Zusammenführung (z. B. Teleworking) gesellschaftlich und privat (hinsichtlich Familienleben, Umwelt, physischer oder psychischer Belastung) bedeuten? Was ist momentan in der politischen Diskussion bezüglich der Geschlechterbeziehungen aktuell? 189 X Titel dieser Politikseite Ges llschaft im Wandel Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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