Zeitbilder 5/6, Schulbuch

Das Bürgertum gibt den Ton an Wer sind die Bürger? Im 18. Jh. kann man zunächst von „zwei Bürgertümern“ sprechen. Ei- nerseits gab es noch das „alte Stadt- bürgertum“ mit seinen speziellen Vorrechten: Die Bürger einer Stadt waren persönlich frei und konnten politisch mitbestimmen. Frauen hatten das Bürgerrecht ihrer Män- ner, besaßen aber keine politischen Rechte. Dieses „alte Bürgertum“ bestand bereits seit dem Mittelalter. Daneben wuchs im Laufe des 18. Jh. ein „neues Bürgertum“ heran. Dazu zählten mehrere Gruppen: Die Besitzbürger bzw. Großbürger: Das waren die Unternehmer. Dazu zählten Großhändler, Fabrikinha- ber, Spediteure, Privatbankiers, Manufakturbetreiber u. a. Sie or- ganisierten im Rahmen der begin- nenden Industrialisierung die neue wirtschaftliche Produktion. Ihre Zahl war gegen Ende des 18. Jh. noch nicht sehr groß, sie nahm aber be- sonders deutlich zu. Die Bildungsbürger: Dazu zählte man Beamte, Gelehrte, Offiziere und Angehörige der so genannten freien Berufe, wie z. B. die Ärzte, Advokaten, Notare, Journalisten. Für ihre Berufsausübung waren Bil- dung bzw. Ausbildung grundlegend. Die Kleinbürger gehörten schließ- lich auch noch zum „neuen Bürger- tum“. Das waren die „kleinen“ Kauf- leute und Gewerbetreibenden. Sie stammten zum Teil noch aus dem al- zählten auch noch die niederen Be- amten (z. B. Lehrer, Unteroffiziere etc.). Das Bürgertum (ca. 10 % der Ge- samtbevölkerung) war also zunächst noch kein in sich geschlossener Stand. Das, was wir heute als Bür- gertum bezeichnen, war bis zur Mitte des 19. Jh. höchst unklar. Man sprach zunächst vom „Mittelstand“ – der zwischen dem Adel und dem „Pöbel“ bzw. den Arbeitern stand. Q Die arbeitende Classe, aus Taglöhnern, Handlangern und dergleichen bestehend, dürfte dem Bürgerstande eigentlich nicht zugetheilt werden. (Schirninger, Österreich im Jahr 1840; zit. nach: Bruckmüller, Sozialgeschichte Öster- reichs, 2001, S. 231) Ab der Mitte des 19. Jh. scheint es, als ob nun der Begriff „Bürgertum“ an die Stelle des „Mittelstandes“ tritt und Besitz und Bildung zusam- menfasst. Schließlich wollte sich das Bürgertum (französisch: Bourgeoi- sie) von der Arbeiterschaft scharf abgrenzen, weil gerade das Groß- bzw. Besitzbürgertum Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigte. Die französische Sprache kennt zwei Begriffe für „Bürger“: „Citoyen“ und „Bourgeois“. „Citoyen“ meint den stimm- und wahlberechtigten Bürger. Mit „Bourgeois“ werden im Laufe des 19. Jh. die Angehörigen der Bourgeoisie bezeichnet. Das ist jene soziale Schicht (Klasse), welche im Gegensatz zur Arbeiterklasse die Produktionsmittel (= Fabriken, Ma- schinen) besitzt. Die Bürger – mit einer neuen politischen Idee Obwohl im Verlaufe der französi- schen Revolution (vgl. S. 166 f.) das Bürgertum noch kein einheitlicher Stand war, wurde bereits damals der Begriff „Bürger“ dazu verwendet, um die Gleichheit der Menschen in einem neuen Zeitalter zu betonen. So wurde beispielsweise dem fran- zösischen König Ludwig XVI. als „Bürger Louis Capet“ der Prozess gemacht und er als solcher hinge- richtet. Die Revolutionäre traten als „Bürger“ auf, um die Vorrechte des Adels und der hohen Geistlichkeit abzuschaffen. Sie sollten im Sinne der Aufklärung gleiche Rechte und politische Freiheit für alle Menschen des Staates erkämpfen. Die anschließenden Kriege gegen Napoleon haben in den meisten der beteiligten Länder einen Patriotismus und eine politische Anteilnahme am Staatsgeschehen vor allem der gebil- deteren und wohlhabenderen Men- schen geweckt. Sie wollten als Bür- ger im Staat eine freie Stellung er- ringen und politisch mitbestimmen. Das wirtschaftlich erfolgreiche Bür- gertum verlangte vom Staat den Schutz der Freiheit und des Privatei- gentums. Man forderte Grundrechte für die Menschen und eine Gewal- tenteilung im Staat. Zur Sicherung einer solchen Ordnung verlangte man nach einer Verfassung und entsprechenden Gesetzen. Durch dieses Interesse an der Demokra- tisierung der Gesellschaft hat das Bürgertum den Adel nachhaltig geschwächt. Trotzdem sah man zu- nächst die bürgerlichen Freiheiten in einer konstitutionellen Monarchie am besten gewährleistet. Bürgerlicher Lebensstil Trotz der aufklärerischen Kritik am Adel orientierte sich das aufstreben- de Bürgertum an den Einstellungen und Verhaltensweisen des Adels. Erziehung und Bildung wurden als bedeutsam erachtet wie auch eine entsprechende Weltanschauung, die sich an der Aufklärung orien- tieren sollte. Das Auftreten in der Öffentlichkeit drückte Unabhän- gigkeit und Selbstbewusstsein aus. Eine bestimmte Kleidung gehörte ebenso dazu wie das demonstrative Freizeitverhalten bei festlichen und künstlerischen Anlässen im Theater oder in der Oper, in Salons und mu- sikalischen Gesellschaften. Bürger- lich hieß dann so viel wie zivilisiert, aufgeklärt, gesittet, in ordentlichen Verhältnissen lebend. Das Bürgertum stellte die persön- liche Leistung in den Vordergrund (Leistungsprinzip) und sah in regel- mäßiger Arbeit und Pflichterfüllung wichtige Grundwerte. Diese kulturellen Ausdrucksformen, die sich als Lebensstil zusammen- fassen lassen, waren das einigende Band der unterschiedlichen Grup- pen des „neuen Bürgertums“. Die Bourgeoisie – eine neue Führungsschicht Neben dem neuen Lebensstil war für das Bürgertum auch die Grün- dung von Vereinen und Berufsver- bänden charakteristisch. Es entstand eine Vielzahl von Wohl- tätigkeits-, Krankenhilfs-, Sport- und Kulturvereinen (z. B. Lese-, Gesangs-, Wissenschaftsvereine). Als Interessensvertretungen der einzelnen Berufsgruppen wurden Gewerbevereine und „Kammern“ (z. B. Handels-, Ingenieurs-, Ärzte- und Advokatenkammern) gegründet. Bis zur Industrialisierung hatte der Groß- grundbesitz auch die wirtschaftliche Vorrangstellung des Adels garantiert. Nun wurde Kapitalbesitz, d. h. (Mit-) Eigentum an Fabriken, Banken, Eisenbahnen etc., entscheidend für die Führung in der Wirtschaft. Diese Positionen nahm aber fast überall das Großbürgertum ein. Denn für den alten Feudaladel galten solche Ge- schäfte als nicht standesgemäß. 188 Politische Bildung – Kompetenztraining Läng schnitt Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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