Zeitbilder 5/6, Schulbuch
Kultivierung bislang ungenützter oder leichter (= wenig fruchtbarer) Böden. Eine eindrucksvolle Steige- rung der landwirtschaftlichen Er- träge war die Folge – z. B. in Öster- reich: Verdreifachung der Getreide- produktion und eine Verdoppelung der Zuckerrübenernte zwischen 1870 und 1910. Damit einher ging der Ausbau einer landwirtschaftlichen Industrie mit Kunstmühlen, Zuckerfabriken, Bier- und Schnapsbrennereien. Zwei Drit- tel des gesamten Volkseinkommens wurden im Jahr 1910 in Österreich in der Landwirtschaft erwirtschaftet. Durch diese Maßnahmen wurde der Arbeitsaufwand für die Bauern- stellen aber deutlich vermehrt. Die Zahl der Dienstboten nahm zu. Die Landwirtschaft wurde allmählich spezialisiert. Mit der Mechanisierung der Land- wirtschaft im Verlauf des 20. Jh. (Einsatz von Mähmaschinen, Trak- toren, Erntemaschinen) wurde der Arbeitskräftebedarf deutlich re- duziert. Gegenwärtig werden die Bauernstellen in Österreich nahezu ausschließlich von den Familienan- gehörigen bewirtschaftet. Ländliche Familienformen Im 17. und 18. Jh. sind auf Grund der Quellenlage erstmals ver- schiedene Formen von Familien erkennbar. Als Familie bezeichnete man in jener Zeit alle Menschen, die un- ter einem Dach lebten. Manchmal zählte man das Vieh dazu. Je größer der Hof war, desto größer musste auch die Zahl der Menschen sein, die ihn bewirtschafteten. So finden sich in manchen Alpengegenden Österreichs im 18. Jh. neben dem Bauern, seiner Frau und den Kin- dern oft noch 10 bis 15 zusätzliche Dienstboten in einem Haushalt (Hausgemeinschaft). Ein Bauer hatte als Hausvater ge- genüber den Mitgliedern seines Haushaltes eine starke, patriarcha- lische Stellung inne. Ihm waren der außerhäusliche Bereich, das Vieh, die Felder und das männliche Ge- sinde zugewiesen. Die Frau hatte die Aufsicht über den Betrieb im Haus, die Erziehung der Kinder, das weibliche Gesinde und das Klein- vieh. Bäuerin und Bauer waren glei- cherweise (Unter-)Eigentümer am Hof. (Das „theoretische“ Obereigen- tum lag bei der Grundherrschaft.) Die Frau galt rechtlich als selbst- ständig. Im Ehevertrag wurde be- stimmt, wie über ihr eigenes bzw. über das gemeinsame Vermögen zu verfügen war. Inleute und Dienstboten waren vielfachen Heiratsbeschränkungen ausgesetzt, denn unverheiratete Knechte und Mägde waren als Arbeitskräfte besser nutzbar als verheiratete. Außerdem wollte man dadurch die Entstehung eines länd- lichen Proletariats verhindern. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird der Bauernhof immer stärker zum Familienbetrieb. Diese Ent- wicklung setzte sich dann im 20. Jahrhundert voll durch. Der neue Bauernstand seit der Bauernbefreiung 1848/49 Die Bauern konnten von nun an so- wohl über ihre Arbeitskraft als auch über ihr Eigentum verfügen. Aller- dings brachte die Einschränkung der Nebenerwerbsmöglichkeiten durch den Rückgang der Heimin- dustrie und durch die Änderungen im Transportwesen viele Bauern in wirtschaftliche Schwierigkeiten. So führte z. B. die Verdichtung des Eisenbahnnetzes ab etwa 1870 zu Einbußen im Fuhrgewerbe und in der Flößerei. Die Verwendung von Steinkohle in der zunehmenden Großindustrie verdrängte die von den Bauern oder Kleinhäuslern bis- her erzeugte Holzkohle. Dies entzog vielen Kleinbauern und Kleinhäus- lern die nötigen zusätzlichen Ein- kommen. Damit wurden die kleinen Bauernstellen unrentabel. Mit der ab 1867 gegebenen Erlaubnis, Bau- ernland zu verkaufen („Der Boden sollte beweglich werden“), verloren die Kleinhäusler und Kleinbau- ern ihre Existenzgrundlage. Aus ihren Reihen formierte sich in der Folge das ländliche und das städ- tische Proletariat. Am Ende stand oft genug das Verschwinden der Kleinbauern und die Einverleibung ihrer Gründe in die neu entstehen- den großen Jagdherrschaften der Finanz- und Industriebarone. In einigen Gegenden des südlichen Niederösterreich gingen zwischen 1883 und 1905 bis zu 23 % des bäu- erlichen Grundbesitzes verloren, in der Obersteiermark von 1903 bis 1912 waren es 7 %. ser (Flößerei) oder zu Lande durch- geführt, Gastwirtschaften oder den Postdienst betrieben. Im 18. Jh. kamen vor allem Spinnen, Stricken und Weben dazu. Diese Verbindung von landwirtschaftli- chen und nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten bestimmte das bäuerli- che Leben bis zum Beginn des 19. Jh. Und sie war wirtschaftlich von Vorteil. Die „ausschließlichen“ Bau- ern hatten durchschnittlich weniger Einkommen als die Industrie- bzw. Gewerbebauern. So stellte Philipp von Hörnigk bereits im Jahr 1684 fest: Q Dass auch bei uns die Bauern in rauen unfruchtbaren Ge- bürgen (…), die sich mit Spinnen, Holzhauen und hunderterlei an- deren Mühseligkeiten ernähren müssen, gemeiniglich mehr Geld haben und ihre Herrschaftsabga- ben besser entrichten, als die in den besten Korn- und Weinlän- dern (…). (Hörnigk, Österreich über alles, wann es nur will, 1684) Mit dem Aufkommen der Spinn- und Webmaschinen in den Fabriken im Laufe des 19. Jh. (vgl. Industriali- sierung S.192 f.) verloren die Bauern diese Zusatzerwerbsmöglichkeiten. L Der vielfältig tätige Bauer wur- de zum Landwirt und verlor sei- ne Zusatzeinkommen. Das bedeu- tete aber auch, dass das „Land“ wirtschaftlich verarmte und seine vorherrschende Rolle gegenüber der Stadt und den neuen Indus triezonen allmählich einbüßte. (Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 2001, S. 211) Industrialisierung in der Landwirtschaft In der ersten Hälfte des 18. Jh. setz- ten sich der Mais, Anfang des 19. Jh. schließlich auch die Kartoffel in Österreich als Pflanzen bzw. Nah- rungsmittel endgültig durch. Um die Wende zum 19. Jh. wurde die traditionelle Dreifelderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft verbes- sert (vgl. Agrarrevolution S. 195). Über die intensivere Düngung mit Stallmist hinaus führte man im Ver- lauf des 19. Jh. die Düngung mit Kunstdünger wie Kalium, Phosphor etc. ein. Das ermöglichte auch die 187 X Titel dieser Politikseite Ges llschaft im Wandel Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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