Zeitbilder 5/6, Schulbuch
Ledige Mütter ‑ uneheliche Kinder An den Rand der Gesellschaft ge- drängt und bisweilen ganz ausge- grenzt wurden auch die ledigen Mütter. (Heirat war in der Frühen Neuzeit ein Privileg, viele mussten unverheiratet bleiben.) Ihnen wur- den unmoralisches Verhalten und Sittenverfall vorgeworfen. Die Äch- tung ging in manchen Gegenden bisweilen so weit, dass die Obrigkeit sicherstellen musste, dass diese Frauen „ungebrandschatzt kindbet- ten“ konnten, d. h. ohne Gefahr für ihr Leben ihr Kind zur Welt bringen konnten. Auch ihre unehelichen Kinder wur- den – oft bis in die Mitte des 20. Jh. – ausgegrenzt, denn Unehelichkeit wurde mit Unehrlichkeit gleichge- setzt. Im späten 18. Jh. errichtete der Staat für diese Frauen und ihre Kinder Gebär- und Findelhäuser. Dort konnten Frauen ihre Kinder auch anonym gebären bzw. ab- geben. Damit sollten Kindsmord, Kindesweglegung und Abtreibung bekämpft werden. Außerdem sollten die unehelichen Kinder aufgezo- gen werden, damit sie für den Staat mehr Nutzen brächten. Doch in der Regel war die Todesrate der Kinder in solchen Findelhäusern sehr hoch. Im Wiener Findelhaus, welches 1784 von Joseph II. einge- richtet wurde und das bis 1910 Be- stand hatte, wurden insgesamt 730 000 „Findlinge“ aufgenommen und weiter vermittelt. Von diesen star- ben 493 670 (das sind 68 %) vor Er- reichung des zehnten Lebensjahres. (Vgl. Pawlowsky, Mutter ledig – Va- ter Staat, 2001, S. 200.) „Blinde, Taubstumme und Irre“ Vor allem geistig Behinderte wurden bis in die 2. Hälfte des 18. Jh. wie wilde Tiere in „Irrenkottern“ ge- halten. Erst mit dem „Narrenturm“ wurde eine besondere Einrichtung für Geisteskranke als Teil des All- gemeinen Krankenhauses in Wien (1783/84) errichtet. Ebenso wurden Anstalten für Taubstumme unter Joseph II. eingerichtet. Dort wurde die Gebärdensprache unterrichtet. 7- bis 14-jährige Buben erhielten eine Ausbildung in Buchdruckerei und Malerei, die Mädchen im Nä- hen, Stricken, Spinnen und Kochen. Kaiser Joseph II. hatte die Vorbilder dafür auf einer Reise nach Paris im Jahr 1777 kennen gelernt. Bauern und ländliche Unterschichten L Das „Kaisertum Österreich“ war ganz überwiegend ein Agrarstaat. Es wäre aber verfehlt, wollte man daraus den Schluss all- gemein mangelnder gesellschaftli- cher Dynamik und vorherrschen- der Statik ziehen. (Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 2001, S. 202) Die ländliche Bevölkerung – deutliche Unterschiede Die ländliche Bevölkerung machte bis gegen Ende des 18. Jh. etwa 80 % der Gesamtbevölkerung aus. In manchen Gegenden waren es auch mehr. Bäuerinnen und Bauern – – bilde- ten nur 25 bis 30 % innerhalb der ländlichen Bevölkerung. Sie waren die Inhaber von Ganz-, Halb- oder Viertelhuben. Die Ver- kleinerung der ganzen Huben zu Halb- oder Viertelhuben geschah meist durch Erbteilung und zog eine Verarmung dieser bäuerli- chen Gruppen nach sich. Unter den Bäuerinnen und Bau- ern befanden sich auf der gesell- schaftlichen Stufenleiter die länd- lichen Unterschichten. Das waren Kleinhäusler/innen, Inleute und das Gesinde. Sie machten etwa 2 / 3 bis 3 / 4 der ländlichen Bevölkerung aus. Kleinhäusler/innen bzw. Häusel- – – leute besaßen ein Kleinhaus mit meist einem kleinen Grundstück. Um überleben zu können, muss- ten sie sich z. B. als Tagelöhner/ innen in der Land- und Forstwirt- schaft, im Verkehrswesen verdin- gen oder handwerkliche Tätigkei- ten im Kleingewerbe betreiben. Inleute – – waren Untermieter. Ihr Hausherr war der Bauer. Oft wa- ren es Verwandte des Bauern oder der Bäuerin: die Eltern, häufig auch Geschwister mit ihren eige- nen Kindern. Auch Witwen oder allein stehende Frauen mit Kin- dern waren unter den Inleuten zu finden. Sie hatten zwar ihren ei- genen Haushalt, mussten aber für regelmäßige Arbeiten am Hof des Bauern zur Verfügung stehen; sie hatten die „Miete“ also abzuar- beiten. Nebenbei konnten sie über Tagelöhner-Arbeit den Lebensun- terhalt aufbessern. Das –– Gesinde bzw. die Dienstbo- ten waren stärker als die Inleute in das bäuerliche Familienleben eingebunden. Meist waren das unverheiratete junge Leute. Sie standen bei Bauern im Dienst, bis sie die Möglichkeit einer Verhei- ratung und Hausstandsgründung erhielten. Lebenslange Dienstbo- ten waren auf dem Lande noch die Ausnahme. Die Standesunter- schiede zu Bäuerinnen und Bau- ern wurden deutlich betont: So bestimmte noch die Tiroler Dienst- botenordnung von 1879: Q Der Dienstbote hat jeden sei- nen Verhältnissen unangemes- senen Aufwand in der Kleidung und in seinen Vergnügungen zu vermeiden. (Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 1985, S. 382) Vom „Industrie- und Gewerbebauern“ zum Landwirt Schon seit dem Spätmittelalter haben Bauern neben ihrer Land- wirtschaft immer auch gewerbliche Tätigkeiten durchgeführt. Sie waren in der Holzwirtschaft tätig, haben Holzkohle gebrannt, Bergbaupro- dukte (z. B. Kleineisen) verarbeitet und vermarktet, Transporte zu Was- Rückgang der Agrarbevölkerung in Österreich 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 landwirtschaftliche Bevölkerung nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung 1300 1400 1500 1600 1700 1800 1900 1980 Vergleiche die Grafik mit dem Zitat. in der 2. Spalte. In welchen Zeiten ändert sich der Anteil der landwirt- schaftlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung besonders deutlich? Wie ist die Situation in der Gegenwart? 186 Politische Bildung – Kompetenztraining Läng schnitt Nur zu Prüfzweck n – Eigen um des Verlags öbv
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