Zeitbilder 5/6, Schulbuch
Die Krise des Staates Frankreich war im 18. Jahrhundert wieder zur stärksten Militärmacht Europas geworden. Dies zeigte sich auch im erfolgreichen Eingreifen Frankreichs im amerika- nischen Unabhängigkeitskrieg gegen England. Dieser Krieg belastete aber auch – neben den Ausgaben für die Aufrüstung und das Hofleben – die ohnehin zerrüttete Finanzlage des Staates extrem. Immer wieder setzte Ludwig XVI. (1774–1792) reform willige Finanzminister ein. Alle Reformversuche scheiterten aber amWiderstand der Privilegierten. Dazu kam, dass viele Franzosen den Amerikanischen Unab- hängigkeitskrieg mit großer Aufmerksamkeit und viel Sympathie verfolgten. Sie wünschten auch in Frank- reich bürgerliche Freiheit und Gleichheit sowie religiö se Toleranz. Einberufung der Generalstände Ende 1788 war der Staat nicht mehr zahlungsfähig. Die Regierung sah sich außer Stande, die Krise allein zu be- wältigen. Deshalb wurden die Generalstände, die seit 1614 nicht mehr zusammenkommen durften, einberu- fen. Jeder Stand wählte seine Abgeordneten getrennt. Das Wahlergebnis zeigte, dass der Wille zur Veränderung auch bei Angehörigen der privilegierten Stände vor- handen war. Denn über zwei Drittel der Abgeordneten des Klerus waren Landpfarrer. Sie waren – so wie etwa ein Drittel der gewählten Aristokraten – bereit, mit dem Dritten Stand gemeinsame Sache zu machen. Die be- deutendsten davon waren Graf Mirabeau und Marquis Lafayette sowie der Erzbischof Talleyrand und Abbé Sieyès. Der Dritte Stand war vor allem durch Rechtsan- wälte vertreten (etwa die Hälfte). Dazu kamen Industri- elle, Kaufleute, Bankiers und Großgrundbesitzer sowie Mitglieder des Bildungsbürgertums wie Ärzte, Gelehr- te und Offiziere. Bauern waren in den Generalständen nicht vertreten. Der Dritte Stand setzte durch, dass er gleich viele Vertreter zu den Generalständen entsen- den konnte, wie die beiden privilegierten Stände zu- sammen. Manche Privilegierte sympathisierten mit den Forderungen des Dritten Standes. In dieser Aufbruchsstimmung, in der sich Frankreich damals befand, erschien eine Unzahl von Flugschriften. Sie setzten sich mit der zukünftigen Organisation des Staates auseinander. Die berühmteste und wirkungs- vollste davon war die des Abbé Sieyès mit dem Titel „Was ist der Dritte Stand?“: Q Der Plan dieser Schrift ist ganz einfach. Wir ha- ben uns drei Fragen vorzulegen. 1. Was ist der Dritte Stand? ALLES. 2. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung ge- wesen? NICHTS. 3. Was verlangt er? ETWAS ZU SEIN. Ist es nicht nur zu gewiss, dass der adelige Stand Vorrechte und Befreiungen genießt, die er sogar sein Recht zu nennen wagt und die von den Rechten der großen Körperschaft der Bürger gesondert sind? Da- durch stellt er sich außerhalb der gemeinschaftlichen Ordnung und des gemeinschaftlichen Gesetzes. (…) Der Dritte Stand umfasst alles, was zur Nation ge- hört; und alles, was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation ansehen. Was ist also der Dritte Stand? ALLES. (…) Welche Möglichkeiten bleiben dem Dritten Stand unter diesen Umständen, wenn er seine politischen Rechte wiedererlangen will? Dann rufen wir eben das (Volks-)Gericht der Nation an, den einzigen Richter, der für alle die Verfassung betreffenden Streitfragen zuständig ist. (Behschnitt, Die Französische Revolution, 1978, S. 29 f.) Was fordert diese Schrift? Was ist das Revolutionäre an ihr? Wer ist in Österreich für eine Veränderung der Verfas- sung zuständig? Versailles, 20. Juni 1789 (Gemälde, Jacques-Louis David, Musée Carnava- let, Paris). Die Abgeord- neten der Nationalver- sammlung leisten den „Ballhausschwur“. Beschreibe das Bild genau, achte dabei vor allem auf die Lichtver- hältnisse. Glaubst du, dass der Maler ein Anhänger der Revolution war? Begründe deine Meinung. 167 Revolution und Restauration 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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