Zeitbilder 5/6, Schulbuch

Etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Bürgertum allmäh- lich das Bewusstsein, dass Frauen und Mädchen besser ausgebildet werden sollten, um ihre Chancen im Erwerbsle- ben zu erhöhen. Hatten sie nämlich kei- nen männlichen „Versorger“, so gerieten manche in großes Elend. 1866 gründe- te die Wienerin Iduna Laube mit dem „Wiener-Frauen-Erwerbs-Verein“ den ersten Frauenverein Österreichs, der sich für Mädchen aus der Mittelschicht einsetzte. Neben anderen Frauen kämpfte die sozial sehr engagierte und später für die christlich-soziale Partei tätige Marianne Hainisch (1839–1936) jahrzehntelang für bessere Ausbildungs- möglichkeiten für Frauen. So versuchte sie 1870, allerdings vergeblich, eine er- ste Mädchenmittelschule zu gründen. In den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts errichtete der Frauenerwerbsverein eine „Höhere Fachschule für Kunststickerei“. Da in der Wirtschaft immer mehr Sekre- tärinnen gebraucht wurden, gründete man Handelsschulen, nach und nach auch andere Fachschulen für Mädchen. Da für diese allerdings ein hohes Schul- geld zu bezahlen war, kamen meist nur Töchter reicher Bürger in den Genuss einer besseren Ausbildung. des 19. Jahrhunderts begünstigten das Streben nach beruflicher Gleichberech- tigung der Frauen: Kaufhäuser entstan- den, Industriebetriebe vergrößerten ihre Verwaltung, die Post richtete Fern- sprechdienste ein. Neue Berufe, vor allem im Bereich der Dienstleistungen, wurden für Frauen mit entsprechen- der Ausbildung möglich: Telefonistin, Sekretärin, Verkäuferin, Lehrerin. Das Problem der Doppel- und Dreifachbela- stung als Mutter, Hausfrau und Berufs- tätige konnte aber für viele Frauen bis in die heutige Zeit nicht gelöst werden. Der Kampf um Bildung Jahrhundertelang bestimmten Männer das öffentliche Leben, die Politik und Wirtschaft. Männer definierten auch ihre Rollenerwartungen Frauen gegen- über. Der Katalog an Vorurteilen über das „Wesen“ und die „wahre Bestim- mung“ von Frauen war groß, wie die folgenden Aussagen aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert belegen: Q Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das Schöne nennen, konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebel- te männliche Intellekt. In diesem Triebe nämlich steckt seine gan- ze Schönheit (…). Dass das Weib seiner Natur nach zum Gehorsam bestimmt sei, gibt sich daran zu erkennen, dass eine jede, welche in die ihr naturwidrige Lage gänz- licher Unabhängigkeit versetzt wird, alsbald sich irgendeinem Manne anschließt, von dem sie sich lenken und beherrschen lässt, weil sie eines Herrn bedarf. Ist sie jung, so ist es ein Liebhaber, ist sie alt, ein Beichtvater. (Schopenhauer, Über die Weiber, 1851) Q Der Instinkt nun macht das Weib tierähnlich, unselbst- ständig, sicher und heiter. In ihm ruht ihre eigentümliche Kraft, er macht sie bewundernswert und anziehend. Mit dieser Tierähnlich- keit hängen sehr viele weibliche Eigentümlichkeiten zusammen. (Möbius, Über den physiologischen Schwach- sinn des Weibes, 1900) Q Es ist das Verhältnis von Mann und Weib kein anderes als das von Subjekt und Objekt. Das Weib sucht seine Vollendung als Objekt. Es ist die Sache des Mannes oder die Sache des Kindes und will, trotz aller Bemäntelung, nicht an- ders genommen werden denn wie eine Sache (…). Ihr Bedürfnis ist vielmehr, nur als Körper begehrt und nur als fremdes Eigentum be- sessen zu werden. (Weininger, Geschlecht und Charakter, 1903) Bildung sah man für Frauen nur dann für notwendig an, wenn dies nützlich für ihre Tätigkeit als Hausfrau und Mutter war. Noch im 18. Jahrhundert lernten nur wenige Mädchen Lesen und Schreiben. Bildung war ein Privileg der Wohlhabenden. Mädchen aus der Oberschicht erhielten durch Hausleh- rer eine „schöngeistige Erziehung“. Es entstanden „Höhere-Töchterschulen“, z. B. unter Joseph II. ein „Offizierstöch- terinstitut“. In solchen Schulen wurden Mädchen jedoch nicht für eine selbst- ständige berufliche Tätigkeit ausgebil- det, sondern auf ihre „weibliche“ Rolle in bürgerlichen und adeligen Haushal- ten vorbereitet. Auf dem Lehrplan stan- den daher Fächer wie Klavierspielen, Französisch-Konversation, Religion und Handarbeiten. Dorothea Friderike Baldinger, die Toch- ter eines deutschen Arztes, schrieb 1760: Q Ich wünschte so sehr gelehrt zu werden und ärgerte mich, dass mich mein Geschlecht davon ausschloss (…). Nun kam auch mein Bruder von der Universität. Diesem ewig geliebten Bruder habe ich alle meine Kenntnisse, mein Glück zu verdanken. Ich würde mehr davon haben, wenn nicht meine Mutter geglaubt hät- te: Bücher lesen, außer Bibel und Gesangbuch, wäre Todsünde, Mü- ßiggang (verlorene Zeit) für ein Mädchen (…). Ich sollte von mei- nem Bruder Klavier, Französisch und dergleichen lernen (…). Mei- ne Liebe zu den Wissenschaften wuchs, je mehr ich mit ihnen be- kannt wurde. Ich glaube, ich wäre gelehrt geworden, wenn mich die Vorsehung nicht für den Kochtopf bestimmt hätte. Ich finde immer noch, dass man auch bei weibli- chen Aufgaben den Verstand der Männer aus ihren Büchern brau- chen kann. (Van Dülmen [Hg.], Frauenleben im 18. Jahr- hundert, 1992, S. 249 f.)  Das Foto zeigt Gabriele Possanner von Eh- renthal (1860–1940), die erste Ärztin Öster- reichs. Sie besuchte die Lehrerinnenanstalt und maturierte dann 1887 als Externistin an einem Knabengymnasium. Weil Frauen damals das Universitätsstudium verboten war, erwarb sie ihr Doktorat in der Schweiz. Um auch in Öster- reich als Ärztin arbeiten zu können, musste sie in Wien alle großen Prüfungen wiederholen! Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert wa- ren die Vorurteile gegenüber weiblichen Akade- mikerinnen groß: Studieren töte die Weiblich- keit, führe zu Haarausfall, mache Frauen für die von der „Natur“ vorgesehenen Aufgaben ungeeignet. 146 Politische Bildung – Kompetenztraining Läng schnitt Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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