Sexl Physik 8, Schulbuch
101 | Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 101.1 Block IV des Kernkraftwerks Tschernobyl nach der Katastrophe. 101.2 Pripjat heute – eine Geisterstadt, wo vor dem Reaktorunglück im April 1986 noch 45 000 Menschen lebten. 0 100 200 300 400 500 600 700 800 Energie in keV 0 5 10 15 20 Anzahl 10 3 · 137 Cs (Röntgen) 132 Te 131 I 131 I 103 Ru 137 Cs 132 I 101.3 Gamma-Spektrum von Regenwasser nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl im Mai 1986 in Köln gemessen. Aufgrund der Energie der einzelnen Linien können die Radioisotope bestimmt werden. 0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 nCi/l 0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 Tage nach dem 26. 4. 1986 101.4 In Österreich wurden nach dem radio- aktiven Fallout 1986 große Mengen an Milch vernichtet, in der sich insbesondere I-131 und Cs-137 angereichert hatte. Die nach etwa 300 Tagen wieder erhöhte Aktivität der Milch war durch die Kontamination des Grünfutters bzw. des Heus verursacht. Der erste auslegungsüberschreitende Unfall in der Geschichte der Kernkraft er- eignete sich in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl 120 km nördlich von Kiew (Ukraine). Es passier- te, als ein Reaktorblock wegen einer jährlich durchzuführenden Revision abge- schaltet werden sollte. Das Kernkraftwerk bestand aus vier Reaktorblöcken des Typs RBMK-1000. Da- bei handelte es sich um graphitmoderierte Siedewasser-Reaktoren von 1000 MW Leistung ohne Sicherheitshülle. Die Brennelemente befinden sich in wasserge- kühlten Druckröhren, die vertikal in einen Graphitblock eingebaut sind, der als Moderator dient. Dieser Reaktortyp kann in einen instabilen Zustand mit unkon- trolliertem Leistungsanstieg geraten. Als entscheidende Unfallursache gilt, dass der Reaktor infolge eines Bedie- nungsfehlers auf 1 % seiner Leistung heruntergefahren wurde und sämtliche Sicherheitssysteme abgeschaltet wurden. Beim Versuch, die Leistung wieder an- zuheben, reagierte der Reaktor mit einem schlagartigen Leistungsanstieg. Da fast alle Steuerstäbe aus dem Reaktorkern entfernt worden waren, konnte die Leistungsentwicklung nicht mehr gestoppt werden und der Reaktor explodierte. An der heißen Oberfläche der Brennelemente bildete sich aus Wasserdampf Knallgas, das explodierte. Das Reaktorgebäude wurde auseinandergerissen, das Dach weggerissen. Der Graphitblock fing Feuer. Ein Teil des radioaktiven Inventars – insbesondere alle gasförmigen und die nicht gasförmigen Spaltpro- dukte Cs-137 und I-131 – gelangten durch den starken Aufwind in die Atmo- sphäre. Das Feuer wurde mit Hilfe von Hubschraubern durch Abwurf von Blei und Sand gelöscht und der Reaktorkern zugedeckt. Da durch Reaktion mit dem Grundwasser weitere Knallgasexplosionen und die radioaktive Verseuchung des Grundwassers zu befürchten waren, musste der Reaktor auch von unten her zu- betoniert werden. An den Aufräumungsarbeiten waren mehr als 600 000 Men- schen beteiligt. In den ersten Tagen nach dem Unglück wurden 135 000 Men- schen evakuiert. Die Anzahl der Menschen, die an den Folgen des Unfalls starben, wird sehr unterschiedlich beurteilt (4 000 Tote lt. IAEA, 93 000 Tote lt. Greenpeace). Die IAEA berichtet über 4 000 zusätzliche Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern der Ukraine. Berichten von regionalen Ärzten zufolge waren die Auswirkun- gen wesentlich gravierender, als sie von der IAEA angegeben werden. Ein Pro- blem bei der Darstellung der gesundheitlichen Folgewirkungen ist u. a., dass die betroffenen Menschen in alle Teile der ehemaligen Sowjetunion ausgesiedelt wurden und keine entsprechenden Daten verfügbar sind. Über die Anzahl je- ner Personen, die an den Rettungsmaßnahmen beteiligt waren und an Krebs erkrankten oder starben, gibt es nur Vermutungen. Zudem fehlen Zahlen über weitere Auswirkungen, wie etwa jene auf das Immunsystem der Menschen. Die durch den Graphitbrand hervorgerufenen hohen Temperaturen bewirkten, dass die radioaktiven Spaltprodukte in höhere Atmosphärenschichten gelang- ten. Wind- und Niederschlagsverhältnisse bestimmten ihre weitere Verfrach- tung. Österreich war unter den Ländern Mitteleuropas besonders stark betrof- fen. Um die von der WHO empfohlenen Richtwerte einzuhalten und weil ein Großteil der Strahlenbelastung durch Einnehmen von kontaminierter Nahrung verursacht wird, wurden große Mengen von frischem Gemüse und von Milch vernichtet. Eine möglicherweise durch den Fallout verursachte Erhöhung der natürlichen und zivilisationsbedingten Krebsrate (derzeit 20–30 %) ist statis- tisch nicht erfassbar. Die Kosten der von der Bundesregierung gesetzten Schutz- maßnahmen wurden für Österreich mit etwa 700 000 Euro beziffert. Die Kraftwerksblöcke 1, 2 und 3 waren bis Dezember 2000 in Betrieb. Proble- matisch ist nach wie vor der Kraftwerksblock 4. Darin befinden sich vermutlich noch 95 % des ursprünglichen Brennstoffs. Eine Schutzhülle aus Beton („Sar- kophag“) verhinderte bisher das Austreten radioaktiver Substanzen in die Um- gebung. Wegen der Instabilität und Brüchigkeit dieses provisorischen Baus, soll eine neue Schutzhülle gebaut werden. Die Kosten werden mit 1,4 Mrd. Euro ver- Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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