Reichel Mathematik 8, Schulbuch
176 Exkurs 4 Börsencrash – ein Versagen der Mathematik? Die Jahre 2001 und 2002 waren gekennzeichnet durch einen – wie es in Wirtschaftskommentaren hieß – „Börsencrash auf Raten“, in dem viele Anleger und Anlegerinnen (vor allem die „kleinen“) eine Menge Geld verloren, viele Firmen in den Ausgleich oder gar Konkurs schlitterten. Wie konnte es (seit 2008 schon wieder) dazu kommen – vor allem in einem solchen verheerenden Ausmaß? Wir wollen uns hier nicht mit den zum Teil dubio- sen Machenschaften und auch nicht mit den (in mancher Hinsicht verbesserungswürdigen gesetz lichen) Regeln im Börsengeschäft befassen, son- dern mit dem Einfluss der Mathematik. Denn heute werden viele Transaktionen (oft ohne menschliches Zutun) in Sekundenschnelle von Computerpro- grammen durchgeführt, die beim Eintreten bestimmter (vorher definierter) Parameterkonstel- lationen mit dem Kauf oder Verkauf bestimmter an der Börse gehandelter Werte reagieren. Hinter je- der dieser Entscheidungen stehen mathematische Modelle , also Konstrukte funktionaler Zusammen- hänge, die die Realität beschreiben (sollen). Diese Modelle sind stochastischer Natur, geht es doch da- rum, welche (zunehmend im wörtlichen Sinn) „glo- balen“ Erscheinungen durch das im Einzelnen nicht (zwingend und daher nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) voraussagbare „lokale“ Verhal- ten der Abermillionen Aktionäre ausgelöst werden. Will jemand (in größerem Umfang) Aktien kaufen, so wird die erhöhte Nachfrage den Preis heben und damit in Folge die Nachfrage dämpfen. Umgekehrt: Will jemand (in größerem Umfang) Aktien verkau- fen, so wird das „Überangebot“ den Preis und damit das Angebot drücken, da viele andere Verkaufswil- lige auf einen besseren Preis warten werden. Die- sen Überlegungen folgend können Preis und Nach- frage als ein sich selbst stabilisierendes System aufgefasst werden, das keine großen Sprünge er- warten lässt. Erøäutere anhand von Figur 1a! Fig. 1a Fig. 1b Diesen theoretischen Vorstellungen folgt die Port- folio-Theorie, die im Wesentlichen eine stetige Marktentwicklung zu Grunde legt, in der „große Sprünge“ Anomalien seien, einmalige Akte „höhe- rer Gewalt“ ohne einer mathematisch fassbaren Regelhaftigkeit. Für gewisse Zeiträume mag das ja stimmen, blendet aber doch zwar seltene , nichts- destoweniger reale Situationen unzulässig aus. Versagt also die Mathematik? Ist sie unfähig, auch solche „anomalen“ Situationen zu beschreiben? Nein! Nur: Kein Modell liefert mehr, als man „hin- einsteckt“. Wenn man in einem Modell (wie der Portfolio-Theorie) die Kursschwankungen unter Berufung auf den zentralen Grenzwertsatz als normalverteilt voraussetzt und daher durch die GAUSS‘sche Glockenkurve beschreibt, also durch eine stetige Kurve „geringer Breite“ (die Kurve ist ja außerhalb des 4 σ -Bereichs praktisch null), so darf man sich nicht wundern, dass dieses Modell die Häufigkeit großer Kursschwankungen tenden- ziell unterbewertet, also eine geringere Volatilität (= Kursschwankungsbreite) prognostiziert als be- obachtet wird. Die Kurse (= Preise) von Aktien sind eben offenbar nicht (streng) normalverteilt! War- um dann dieses Modell? Weil es mathematisch gut erforscht und einfach zu handhaben ist. Denkbar ist aber auch folgendes Szenario: Größere Aktienkäufe ermuntern potenzielle „Trittbrettfah- rer“ (dieselben) Aktien zu kaufen. So erhöht die Nachfrage (trotz höheren Preises) die Nachfrage, und diese stimuliert aufs Neue die Preis-Nachfra- ge-Spirale. Umgekehrt können größere Aktienver- käufe (trotz oder sogar wegen dramatisch sinken- den Preises) zu Panikreaktionen und Notverkäufen führen. Es ist dies der typische Fall (das Modell) eines sich selbst destabilisierenden Systems. Erøäu- tere anhand von Fig.1b! S 167 S 125 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=