Reichel Mathematik 7, Schulbuch

92 Exkurs 2 Von Fadengrafiken zu BÉZIER-Kurven „Kunstwerke“ wie die im Foto oben gezeigten Fadengrafiken hast du vielleicht schon selbst nach fol- gendem Konstruktionsprinzip geschaffen: Auf den beiden Schenkeln eines Winkels werden in je- weils gleichem Abstand Nägel eingeschlagen und je zwei „zusammengehörige“ Nägel durch einen Faden verbunden. Erøäutere! Was auf den ersten Blick als nette Spielerei ohne weiteren Nutzen aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als eine universelle Methode zur Be- schreibung von sogenannten Freiformkurven und Freiformflächen, wie sie zB bei Autokarosserien, Flügelformen und Schiffsrümpfen auftreten. Nach dem Erfinder dieser Methode, dem Ingenieur Pierre BÉZIER (1910–1999) heißen die mit dieser Methode konstruierten Kurven und Flächen BÉZIER-Kurven und BÉZIER-Flächen. BÉZIER stellte seine beim französischen Autohersteller Rénault entwickelte Methode 1961 vor. Übrigens hat der französische Mathematiker Paul de Faget de CASTELJAU die Methode schon zwei Jahre früher für den Autohersteller Citroën erfun- den, durfte sie aber aus Wettbewerbsgründen nicht veröffentlichen (übrigens ein Schicksal, das er mit vielen anderen genialen Erfindern teilt). Ihm zu Ehren benannte man den Algorithmus, mit dem BÉZIER-Kurven berechnet werden, CASTELJAU- Algorithmus. Dem Autor ist nicht bekannt, ob CASTELJAU bzw. BÉZIER ihre Idee aus dem spielerischen Umgang mit Fadengrafiken bezogen. Es hätte aber durchaus der Fall sein können, wie wir ausgehend von Fig. 1 zeigen wollen: Fig. 1 x y $ ļ | 0) B(0 | & | 0) T a dx dy T ab T b Mathematisch gesehen ist jeder Faden für die ent- stehende Hüllkurve eine Berührstrecke, die von ei- nem Punkt T a (t – 1 1 t ) der Strecke AB = a zu einem Punkt T b (t 1 1 – t ) auf der Strecke BC = b reicht. t ist dabei ein Parameter, der von 0 bis 1 läuft und da- bei die Teilungspunkte T a und T b festlegt. Für t = 0 erhält man T a = A und T b = B , also als ersten Faden die Berührstrecke a . Für t = 1 erhält man T a = B und T b = C , also als letzten Faden die Strecke b . Variiert t im Intervall ]0; 1[ , so erhält man alle „dazwischen liegenden“ Berührstrecken. Allerdings kennen wir nicht den jeweiligen Be- rührpunkt T ab – obwohl dieser augenscheinlich mit wachsendem t auf der Berührstrecke von ganz links nach ganz rechts hinüber rutscht und in der Mittellage t = 1/2 aus Symmetriegründen wohl der Halbierungspunkt der Berührstrecke ist. Dies legt die Vermutung nahe, dass der Berühr- punkt T ab die Strecke T a T b im selben Verhältnis teilt wie T a die Strecke a oder auch T b die Strecke b , nämlich im Verhältnis †λ† = t(1 – t) . Für die Koor- dinaten des Punktes T ab erhält man in Abhängigkeit von t gemäß der Teilungspunktformel für Innentei- lungen (vgl. Buch 5. Kl. S. 246) T ab = T a – λ ·T b _____ 1 – λ = “ t – 1 t § – “ ‒ t ____ 1 – t § · “ t 1 – t § _____________ 1 – “ ‒ t ____ 1 – t § = = . . . = “ 2 t – 1 2 t·(1 – t) § Da der Ort der Berührpunkte T ab die gesuchte Hüll- kurve ist, hat diese die Parameterdarstellung x = 2 t – 1 y = 2 t·(1 – t) = 2 t – 2 t 2 Durch Elimination von t erhält man daraus y = 1/2·(1 + x)·(1 – x) = 1/2·(1 – x 2 ) Dies ist eine Gleichung 2. Grades ; sie beschreibt ei- ne Parabel. Zu prüfen bleibt, ob die Vermutung richtig war. Die Tangente im Punkt P (2 t – 1 1 2 t·(1 – t)) hat gemäß dem Steigungsdreieck in Fig. 1 die Steigung y’ = dy __ dx = (1 – t) – t ______ t – (t – 1) = 1 – 2 t ____ 1 = 1 – 2 t 155152-092 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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