Reichel Mathematik 7, Schulbuch
42 Exkurs 1 Leben wir in einer Vollwelt oder in einer Hohlwelt? Im Laufe der Geschichte hat sich die Menschheit in Gestalt ihrer Weisen und Priester immer wieder die Frage nach der Stellung des Menschen in der Schöpfung gestellt, insbesondere nach dem Ver- hältnis unserer Erde zu Sonne, Mond, Planeten und Gestirnen. Die Antworten darauf waren höchst unterschiedlich: Die Erde als scheibenförmige Welt, um die sich der „Himmel“ dreht, die Erde als Kugel, um die sich Sonne, Mond, Planeten und Gestirne drehen („Geo- zentrisches Weltbild“), die Erde als ein Planet un- ter anderen, der sich um die Sonne dreht („Helio- zentrisches Weltbild“), das Sonnensystem als eines von vielen, das sich um das Zentrum der Milch- straße dreht („Kosmisches Weltbild“). Du siehst: Immer wieder mussten Weltbilder adap- tiert werden, um darin bislang unerklärliche oder sogar zu ihm widersprüchliche Phänomene „erklä- ren“ zu können. Weltbilder sind von genialen Men- schen erfundene Theorien, nicht Dogmen. Dass neue Weltbilder (dennoch) von (den Herrschenden) der Lehrmeinung immer wieder als Ketzerei be- zeichnet und nicht selten mit allen Mitteln – bis hin zur Todesstrafe – bekämpft wurden (und werden), ist eine traurige aber unbestreitbare Tatsache. Auch heute ist das dir geläufige Weltbild, dass wir auf der „Außenhaut“ einer „kugelförmigen“ Erde leben, um die herum sich der Kosmos (unendlich weit?) erstreckt, keineswegs unbestritten. Es gibt durchaus ernstzunehmende Personen – auch in der Wissenschaft –, die aufgrund sonst schwer er- klärbarer Phänomene behaupten, dass wir auf der „Innenhaut“ einer Kugel leben (könnten), quasi am Rand einer Hohlwelt, in deren Inneren der gesam- te Kosmos gefangen ist. Bevor man solche Ansich- ten mit einem „Diese Spinner“ abtut oder sogar (den schlechten inquisitorischen Ritualen folgend) als Irrlehre bekämpft, sollte man deren Argumente prüfen. Der prominente österreichische Physiker R. SEXL (1939–1986) hat dies getanund befunden, dass diese Ansicht auf keine Widersprüche zum übrigen Weltbild der Physik führe, dass es also ebenso möglich sei, dass wir in einer „Hohlwelt“ leben statt auf einer „Vollwelt“ . Uns fehlt natürlich die Möglichkeit, die Argumente und Gegenargumente in ihrer Gesamtheit nachzu- prüfen und zu bewerten. Aber einen groben Ein- druck, wie man sich die Hohlwelt vorzustellen hat, können wir uns schon verschaffen, indem wir das Analog im R 2 studieren. In der zweidimensionalen „Vollwelt“ spielt sich alles im Außengebiet des „Erdkreises“ ab, in der Hohlwelt im Inneren des „Erdkreises“. Auch die Verfechter der „Hohlwelt-Theorie“ bedien- ten sich beim Versuch, (wenigstens) die Gleichbe- rechtigung der „Vollwelt-Theorie“ und der „Hohl- welt-Theorie“ zu beweisen, dieses ebenen Modells und einer Transformation, welche die Objekte der Vollwelt in die Hohlwelt abbildet. Diese Abbildung heißt Inversion . Setzt man (was keine Beschrän- kung der Allgemeinheit bedeutet) den Erdradius mit 1 an und verwendet die GAUSS’sche Zahlenebene als Modell, so errechnet sich der Bildpunkt P° (festgelegt durch die komplexe Zahl z° ) des Punktes P (festge- legt durch die komplexe Zahl z ) mittels z° = 1/ _ z , wo- bei _ z die konjugiert-komplexe Zahl von z ist . Zur Konstruktion von P° legt man von P die Tan- genten an den Inversi- onskreis ( = Einheits- kreis um den Koordina- tenursprung O ) und zeichnet die Berührseh- ne T 1 T 2 . Der Bildpunkt P° liegt dann im Schnitt- punkt der Berührsehne mit der Strecke PO . Die Richtigkeit dieser Kons- truktion ergibt sich durch Anwendung des Kathe- tensatzes auf das Dreieck OPT 1 : 1 2 = ___ OP°· __ OP w z° = ___ 1/z = 1/ _ z F 1a F 1b F 2 Fig. 2 Im Re 0 P š z T 1 T 2 1 z 1 = z° š P° 1 z Fig. 1a Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=