Reichel Mathematik 7, Schulbuch
36 Komplexe Zahlen und algebraische Gleichungen 1 Dir wird G. CARDANO besser als Namensgeber der Kardanischen Aufhängung und insbesondere des Kardangelenks bekannt sein – erfunden hat er jedoch auch diese nicht. Fig. 1.13b KARDAN-Gelenk Kardanische Aufhängung für einen Kompass Fig. 1.13a Fig. 1.13c Allerdings konnten bei Anwendung der CARDAN’schen Formel Wurzeln aus negativen Zahlen auftreten (diesen Lösungsfall nannte man den „casus irreducibilis“, weil man ja aus negativen Zahlen damals kei- ne Wurzeln ziehen konnte). Dies führte schließlich dazu, dass Rafael BOMBELLI um 1570 begann, mit komplexen Zahlen zu rechnen, und zwar im Wesentlichen genau so, wie wir es in Kap. 1.1 getanhaben. Sehr bald verwendete man die komplexen Zahlen auch bei der Lösung quadratischer Gleichungen und in mehreren Anwendungen. Auch gewann man eine große Rechenfertigkeit mit dieser neuen Art von „Zahlen“. Dennoch blieben imaginäre und komplexe Zahlen noch mehr als 200 Jahre lang eine geheim- nisvolle Angelegenheit. Der berühmte Mathematiker und Philosoph der Barockzeit G. W. LEIBNIZ (1646– 1716) bezeichnete die komplexen Zahlen noch als „eine feine und wunderbare Zuflucht des göttlichen Geistes, beinahe ein Amphibium zwischen Sein und Nichtsein“. Erst als im 19. Jahrhundert komplexe Zahlen als Paare reeller Zahlen gedeutet wurden, erst als C. F. GAUSS (1777–1855) in Form der GAUSS’schen Zahlenebene eine geometrische – und damit „anschau- lich-handfeste“ – Deutung der komplexen Zahlen (er-)fand, verlor das Rechnen mit komplexen Zahlen auch vom algebraischen Standpunkt alles Geheimnisvolle und Dunkle. Man sieht: Die „logische Klärung“ und Fundierung hat also mehr als dreihundert Jahre gebraucht! Heu- te bilden die komplexen Zahlen einen festen und wichtigen Bestandteil der Mathematik, und sie haben viele Anwendungen in der Physik (zB Elektrotechnik) und überall dort, wo Gleichungen auftreten. Tatsächlich bereitet das Umdenken Schwierigkeiten, mit Wurzeln aus negativen Zahlen zu rechnen, die in all den Schuljahren zuvor als „unmöglich“ bezeichnet und vermieden wurden. Besonders aufregend mag es sein zu entdecken, dass gewöhnliche Rechenoperationen mit solchen „imaginären“ Zahlen plötz- lich oft ganz „normale“ (reelle) Zahlen ergeben. LEIBNIZ berichtet, dass ihn „Schauer durchliefen“, als er die folgende Entdeckung machte: 9 ______ 1 + 9 _ ‒3 + 9 ______ 1 – 9 _ ‒3 = 9 __ 6 Quadrieren liefert ja: (1 + 9 __ ‒3) + 2· 9 _____________ (1 + 9 _ ‒3)·(1 – 9 __ ‒3) + (1 – 9 __ ‒3) = 2 + 2 9 __ 4 = 6 So manche(r) Studierende stellt sich die (philosophische) Frage: „Wie kann 9 __ ‒1 als Zahl überhaupt exis- tieren, ist nicht das Quadrat jeder Zahl stets größer oder gleich null?“ Man könnte antworten: Im Grunde haben wir imaginäre 1 Zahlen ja nur als Symbole eingeführt und uns daran gewöhnt, mit solchen „imaginären“ Zahlen zu rechnen. Andererseits erhielten wir konkrete Er- gebnisse, und genügt dies nicht als Rechtfertigung? 1 imago (lat.) … Bild; imaginär … nur in der Vorstellung existierend. (Diese Bezeichnung ist irreführend, da ja jede Zahl in diesem Sinn „imaginär“ ist, insbesondere zB auch die Zahl ‒1 , aus der schließlich alle negativen Zahlen aufgebaut werden, und zwar ganz analog wie die imaginären Zahlen aus der Zahl i .) KARDAN-Gelenk Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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