Reichel Mathematik 6, Schulbuch

259 7.7 Rückblick und Ausblick 7 Erst um etwa 1815 wurde dies als Beweislücke empfunden, und zwar vom Mathematiker und Theologen Bernhard BOLZANO (1781–1848), der dann auch diese „Lücke“ schloss, indem er einen „rein analyti- schen“ (dh. „rechnerischen“) Beweis des Zwischenwertsatzes publizierte. Als Folge seines Beweisbedürfnisses und im Zuge seiner Beweisversuche entdeckte er eben das Phäno- men der Stetigkeit und gab als einer der Ersten eine brauchbare und in gewissem Sinn präzise Definition: „Nach der richtigen Erklärung versteht man unter der Redensart, dass eine Funktion f(x) … nach dem Gesetz der Stetigkeit sich ändere, nur soviel, dass, wenn x irgendein solcher Wert ist, der Unterschied f (x + ω ) – f (x) kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden könne, wenn man ω so klein als man nur will annehmen kann.“ Ganz allgemein trat im 19. Jahrhundert nach der Entdeckung vieler Ungereimtheiten und Paradoxien des bloß anschaulich-naiv gefassten Funktionsbegriffs ein Bedürfnis nach einem strengen und „exak- ten“ Aufbau der Mathematik auf. A. L. CAUCHY (1789–1857) C. F. GAUSS (1777–1855) B. BOLZANO (1781–1848) Besonders verdient machte sich diesbezüglich der französische Mathematiker Augustin Louis CAUCHY (1789–1857). Mit seinem berühmten Buch „Course d‘analyse“ legte er als einer der Ersten einen „stren- gen“ Aufbau der „Funktionslehre“ vor, wie er im Wesentlichen auch heute noch (zum Teil auch in unse- rem Lehrbuch) verfolgt wird, selbst wenn der Funktionsbegriff seither eine noch wesentlich umfassen- dere Bedeutung erlangte (vgl. Buch 5. Kl. S. 122). CAUCHY gilt im Allgemeinen als derjenige Mathematiker, der den Stetigkeitsbegriff als grundlegend für den Aufbau und die Theorie der Funktionen erkannt hat. Auf ihn gehen letztlich auch die gängigen Ste- tigkeitsdefinitionen zurück. Auf ihn (und BOLZANO, der in Prag gewirkt hat) gehen weiters auch die Li- mes-(Grenzwert-)Definitionen zurück, sowie die Erkenntnis, dass und wie Stetigkeit und Grenzwert von Funktionen zusammenhängen. Der Stetigkeitsbegriff wurde also ebenso wie der moderne Funktionsbegriff in einem längeren Prozess aus anschaulichen Gegebenheiten und Problemstellungen „destilliert“, präzisiert und exaktifiziert. Ihre Bedeutung und Tragweite wurde erst im Laufe eines längeren erkenntnistheoretischen Prozesses er- kannt und gewürdigt. Insofern ist der Stetigkeitsbegriff und der Begriff der (reellen) Funktion exempla- risch für die Entwicklung mathematischer Begriffe und Modelle überhaupt. 1040 Aus „Erfahrung“ wissen wir, dass die nachstehend angeführten Funktionen über R stetig sind. Begründe dies verbaø unter Bezugnahme auf einfache Bewegungsvorgänge wie den schiefen Wurf, eine konstante Drehbewegung etc., die durch diese Funktionen beschrieben werden! a Lineare Funktion b Sinusfunktion c f: s = g _ 2 ·t 2 1041 a Überprüfe, ob auch die „Umkehrung“ des Zwischenwertsatzes giøt, dh.: „Wenn jeder Wert zwischen f (a) und f (b) mit f (a) ≠ f (b) mindestens einmaø angenommen wird, ist f auf [a; b] stetig“! Beøege deine Vermutung durch eine Skizze! b Zeige anhand einer Skizze, dass der Nuøøsteøøensatz bøoß ein Sonderfaøø des Zwischenwertsatzes ist! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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