Reichel Mathematik 6, Schulbuch

258 Reelle Funktionen 7 2. Den Modellaspekt des Stetigkeitsbegriffs kennen Die eben beschriebene verfahrenstechnische Sicherheit hat jedoch auch ihren Preis. Dieser besteht da- rin, durch die – aus rein innermathematischen Gründen – einseitige Bevorzugung stetiger Funktionen reale Phänomene unter Umständen unzureichend oder sogar unzutreffend zu modellieren. Betrachten wir zB die Steuerung eines Wasserdurchflusses mittels eines Wasserhahns: Für die von uns makroskopisch wahrgenommene „Wirklichkeit“ scheint es selbstverständlich zu sein, dass eine genügend kleine Änderung der Hahnstellung eine beliebig kleine Änderung der Durchfluss- menge bewirkt. In der mikroskopisch kleinen Welt der Moleküle stellt jedoch ein Molekül eine natürliche untere Grenze für die Dosierbarkeit der Durchflussmenge dar. In „Wirklichkeit“ ist der Vorgang daher nicht kontinuierlich , sondern diskret ! Die Steuerung der Durchflussmen- ge kann prinzipiell nur „sprunghaft“ erfolgen und müsste daher ei- gentlich durch eine Treppenfunktion beschrieben werden. Aber auch diese Modellierung ist problematisch. Sie setzt voraus, dass man (wenigstens) die Stellung des Wasserhahns beliebig ge- nau regulieren kann. Was aber wäre, wenn es auch für den Dreh- winkel eine „natürliche“ untere Dosierbarkeitsgrenze gäbe, sozu- sagen ein „Winkelquant“? Dann wäre die Steuerung des Wasserdurchflusses nicht einmal durch eine reelle Funktion, ge- schweige denn durch eine stetige reelle Funktion beschreibbar, weil auch die x-Werte diskret lägen. Dennoch hat sich – wie wir wissen – die durch das „mathematische Modell“ vorgenommene Idealisie- rung des Vorgangs als der Sache angemessen und somit als sehr nützlich und sinnvoll erwiesen. Hier liegt ja ganz allgemein eines der wesentlichen Merkmale der Mathematik: Sie beschreibt natürliche Vorgänge in (möglichst) einfacher und idealisierter Form und trägt so zum Verständnis dieser Vorgänge und zur Lösung damit zusammenhängender Probleme bei. Begriffe wie „Würfel“, „Funktion“ oder „Ste- tigkeit“ sind solche Idealisierungen von bestimmten „natürlichen Objekten“, „Beziehungen“ oder „Ei- genschaften“. Mathematische Idealisierungen haben sich (vielen Einwänden zum Trotz) seit Jahrtau- senden bewährt – in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht! 3. Den Funktions- und Stetigkeitsbegriff in seiner historischen Entwicklung kennen Die Entstehung und historische Entwicklung des Funktions- und Stetigkeitsbegriffs ist in gewisser Hin- sicht typisch für die Genese mathematischer Begriffe: Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts rechnete und arbeitete man mit stetigen Funktionen, ohne die Ei- genschaft der Stetigkeit zu benennen, ja sogar ohne sie überhaupt als eine wesentliche Eigenschaft von Funktionen zu erkennen. Funktionen waren eben (vgl. Buch 5. Kl. S. 122) einfach „analytische Ausdrü- cke“ (Terme), die „irgendwie aus einer Veränderlichen und Konstanten zusammengesetzt“ waren: y = f (x) . Da im Wesentlichen nur Funktionen auftraten, deren Schaubild man „in einem Zug mit der Hand“ – also ohne unterbrechen zu müssen – zeichnen konnte, war „Stetigkeit“ kein Problem bzw. trat sie nicht als solches auf und wurde daher auch als solches nicht erkannt. So verwendete zB selbst der große Mathematiker Carl Friedrich GAUSS (1777–1855) beim Beweis des berühmten „Fundamentalsatzes der Algebra“ (den wir in der 7. Klasse kennen lernen werden) den obi- gen „Zwischenwertsatz“ so, wie wir ihn in Kap. 7.2 verwendet haben, rein anschaulich und als nicht nä- her beweisbedürftige „Tatsache“. Fig. 7.23 F 7.23 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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