Reichel Mathematik 6, Schulbuch
163 4 sondern nur beliebig genau darstellen lassen. Sie sind Vertreter jenes von den Pythagoräern nicht ak- zeptierten Zahlentyps, den du längst als irrationale Zahl kennst. Wer nun meint, dass das Problem des Messens da- mit endgültig gelöst wäre, der irrt gewaltig. Wir sind nun zwar in der Lage, Strecken, Kreisbögen und auch viele andere „krumme Linien“ zu mes- sen, dh. ihnen eine Zahl als Länge zuzuordnen. Aber so wie vor rund 2500 Jahren die Entdeckung der Inkommensurabilität (Unmessbarkeit) von Strecken an den Grundfesten des mathematischen Gebäudes rüttelte, so vor nicht einmal 100 Jahren auch die Entdeckung der Fraktale . Fig. 1 zeigt ein Beispiel eines Fraktals, die so ge- nannte „Schneeflockenkurve“ . Sie entsteht durch folgende schrittweise Konstruktion: 1. Schritt: Zeichne ein gleichseitiges Dreieck mit der Seitenlänge a = 1 . Es heiße K 1 . 2. Schritt: Dem mittleren Drittel jeder Seite von K 1 wird ein gleichseitiges Dreieck „aufgesetzt“, des- sen Grundlinie anschließend gelöscht wird. So entsteht K 2 . …… n-ter Schritt: Dem mittleren Drittel jeder Seite von K n – 1 wird ein gleichseitiges Dreieck „aufgesetzt“, dessen Grundlinie anschließend gelöscht wird. So entsteht K n . Setzt man diesen Prozess „bis in alle Ewigkeit“ fort, so streben die K i gemäß Fig. 1 offenbar gegen eine schneeflockenartige „Grenzkurve“. Wie øang ist diese Kurve? Betrachten wir dazu die Folge der Umfänge U i der „Flockenstadien“ K i , die laut Konstruktion eine geo- metrische Folge bilden: U i + 1 = 4/3·U i mit U 1 = 3a Wegen q = 4/3 > 1 ist die Folge divergent mit dem „Grenzwert“ unendlich. Mit anderen Worten: Die Kurve ist unendlich lang – obwohl sie ganz im Endlichen verläuft! Wie groß ist die Føäche der Schneeføocke? Da alle K i innerhalb des roten Kreises liegen , ist die Folge ihrer Flächeninhalte A i durch dessen Flä- cheninhalt a 2 · π /3≈ 1,05·a 2 nach oben beschränkt . Da die A i zudem laut Konstruktion monoton wach- sen, muss ihr Grenzwert A wegen des Satzes von der monotonen Konvergenz existieren. Eine untere Schranke für A ist der Flächeninhalt A 1 = a 2 · 9 __ 3/4 ≈ 0,43a 2 des Ausgangsdreieckes, eine schärfere ist 3a 2 · 9 __ 3/8 ≈ 0,65a 2 , die die Reihe A 1 ·(1 + 1/3 + 1/9 + …) liefert. Diese geometrische Reihe drückt aus, dass im (i + 1) -ten Schritt min- destens ein Drittel des i-ten Flächenzuwachses hinzukommt. Begründe anhand der je neun grü- nen Dreiecke in Fig. 1! Tatsächlich wächst die Fläche jedoch um 4-mal so viele Dreiecke, wie es im vorigen Schritt Seiten gab. Jedes der neuen Dreiecke hat jeweils 1/9 (vgl. die grünen Dreiecke in Fig. 1) jenes Flächen- inhalts, das jedes der im vorhergehenden Schritt hinzugekommenen Dreiecke besitzt. Ausgehend vom Flächeninhalt A 1 des Ausgangsdreiecks ergibt sich daher für den Flächeninhalt A der Schnee- flocke: A = A 1 · “ 1 + 3· 1 _ 9 + 3·4· “ 1 _ 9 § 2 + 3·4 2 · “ 1 _ 9 § 3 + … § = A 1 · “ 1 + 3 _ 9 · “ 1 + 4 _ 9 + “ 4 _ 9 § 2 + … § § = a 2 · 9 __ 3 ____ 4 · “ 1 + 3 _ 9 · 1 ___ 1 – 4 _ 9 § = a 2 · 9 __ 3 ____ 4 · 8 _ 5 ≈ 0,69·a 2 Du siehst: Manchmal muss man „bis ins Unendli- che zählen“, um das (endliche!) Ergebnis zu erhal- ten. Zählen und Messen ist eine Erfindung menschlichen Geistes, ist Teil der Jahrtausende währenden Entwicklung der Mathematik. Zählen und Messen ist etwas „Konstruktives“. In diesem Sinn hat(te) Galileio GALILEI recht: man muss(te) erst alles Messbare messbar machen . F 1 S 131 Fig. 1 K 1 K 2 K 3 K 4 K 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=