Reichel Mathematik 6, Schulbuch
162 Exkurs 4 Aber braucht man das wirklich machen ? Ist nicht sowieso alles „irgendwie“ messbar? Auch wenn sich das Zitat in sei- nem Kern auf das Messen von Naturphänomenen (in Experi- menten) bezieht, hat es doch auch eine wesentliche Bedeu- tung für die Mathematik. Die Maßgeometrie, so wie wir sie bisher betrieben haben , baute auf dem Längenbegriff und dem Winkelbegriff auf. Jedenfalls den Längenbegriff haben wir dabei in ganz naiver Weise vorausge- setzt, ohne uns um die Problematik hinter diesem Begriff besonders zu kümmern. Was heißt aber ei- gentlich eine Länge messen ? Gemäß unserem bisherigen Wissensstand doch wohl festzustellen, wie oft eine vorgegebene Ein- heitsstrecke in der zu messenden Strecke enthal- ten ist, aus ihr „geschöpft“ werden kann. Mit ande- ren Worten: Messen wird auf Zählen zurückgeführt, also auf den Folgenbegriff der (natürlichen bzw. ganzen) Zahlen. Das hat aber nur Sinn, wenn beim Zählen kein Rest bleibt. Bleibt einer, so verwendet man eben eine passend gewählte kleinere Ein- heitsstrecke (statt mm etwa μm ), bei der kein (be- merkbarer, besser: bemerkenswerter) Rest bleibt. In Hinblick auf praktische Anwendungen hat man das Problem damit offenbar gelöst, nicht jedoch im Hinblick auf eine theoretische Absicherung des Begriffs. Denn schon im Einheitsquadrat ist die Länge einer Diagonale ( = 9 __ 2 ) in diesem Sinn nicht mehr messbar , obwohl sie als Strecke mit dem Zir- kel abgenommen werden kann und (zumindest in diesem geometrischen Sinn) existiert ! Diese Erkenntnis, dass es ganz einfach konstruier- bare Strecken gibt, die man messen kann und sol- che, die man nicht messen kann, erschütterte vor rund 2500 Jahren das Weltbild der „Pythagoräer“, einer philo- sophischen „Schule“ bedeuten- der Denker im antiken Grie- chenland. Ihr Dogma „Alles ist (ganze) Zahl“ war zerstört! So überrascht es nicht zu hören, dass der Pythagoräer HIPPASOS, der angeblich diese Erkenntnis öffentlich kundgetan hatte, aus der „Ordensgemeinschaft“ der Pythagoräer ausgeschlossen wurde und kurze Zeit später (als Strafe der Götter) bei einem Schiffbruch ertrank. Noch schwieriger wird es bei krummen Linien wie etwa Kreisbögen. Ist hier ein „Ausschöpfen“ mit (auch noch so kleinen) geradlinigen Strecken über- haupt möglich? Noch mehr: Ist es überhaupt not- wendig? Denn die Länge einer krummen Linie ist doch eh klar? Man braucht doch nur einen „Fa- den“ deckend über die krumme Linie legen, die- sen dann (ohne zu dehnen) gerade ziehen und mit einem Lineal abmessen . Doch schon beim Kreis beginnen die Probleme. Eine tragfähige Antwort der Mathematik auf dieses schwierige Grundlagenproblem ließ bis in die Neu- zeit auf sich warten. Sie bestand darin, den Begriff der Zahl (die ja die Länge angeben soll) zu erwei- tern. Genauer: die (aus dem Zählen, Teilen und Mes- sen) entwickelten Begriffe der natürlichen Zahlen und der Bruchzahlen (gedanklich) „fortzusetzen“. Nicht nur das durch einen endlich langen „Zählpro- zess“ entstandene und mit endlicher Zifferndarstel- lung notierbare aktuale (tatsächliche) Ergebnis wur- de als Zahl akzeptiert, sondern nun auch das aus einem prinzipiell unendlich lange dauernden „Zähl- prozess“ resultierende potentielle (mögliche) Ergeb- nis mit nicht-endlicher Zifferndarstellung. Durch diesen „Trick“ wurden 9 __ 2 und π zu Zahlen , auch wenn sie sich als Dezimalzahl eben nicht exakt , K 1 Vom Zählen zum Messen „Messen und zählen, was mess- und zählbar ist; alles, was es nicht ist, mess- und zählbar machen.“ Dieser Satz stammt vom berühmten Physiker und Astronomen Galileio GALILEI (1564–1642). Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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