Reichel Mathematik 6, Schulbuch
158 Folgen und Grenzprozesse 4 Insbesondere die geometrische Reihe ist ein zentrales Anwendungsgebiet konvergenter Folgen. Die Wei- terentwicklung der Grundidee konvergenter Reihen wird uns in der 7. und 8. Klasse noch näher be- schäftigen (Stichwort: Reihenentwicklung spezieller Funktionen, TAYLOR-Reihe und Ähnliches). Bisher hat die geometrische Folge und Reihe vor allem dazu gedient, uns den Grenzwertbegriff erst ein- mal näher zu bringen und uns mit seiner Problematik vertraut zu machen. Auf eine recht merkwürdige Problematik sind wir dabei noch nicht eingegangen: Die Reihe 1 – 1 + 1 – 1 + 1 – 1 + … sieht lustig aus. Sie ist eine geometrische Reihe mit q = ‒1 und b 1 = 1 . Hat diese Reihe eine Summe? Die Antwort ist nein. Durch Setzen von Klammern erhältst du nämlich zB einerseits (1 – 1) + (1 – 1) + (1 – 1) + … = 0 + 0 + 0 + … = 0 andererseits aber auch 1 – (1 – 1) – (1 – 1) – (1 – 1) –… = 1 – 0 – 0 – 0 –… = 1 Anders als bei einer endlichen Summe (bzw. einer konvergenten Reihe) verändert hier das Setzen von Klammern die „Summe“; es ist also sinnlos , der Reihe 1 – 1 + 1 – 1 + … eine „Summe“ zuzuordnen! So einfach uns dies heute erscheint, noch in der Barockzeit wollte man partout nicht glauben, dass es Reihen ohne Summe gibt. Konvergenzüberlegungen waren damals unbekannt. Man benützte ohne wei- teres die Summenformel für die unendliche geometrische Reihe und schrieb 1 + x + x 2 + ... = 1 ___ 1 – x ohne an Einschränkungen bzw. den Gültigkeitsbereich der Formel zu denken (hier: ! x ! < 1 ). Gemäß die- ser Formel erhält man für x = –1 die obige Reihe 1 – 1 + 1 – 1 + … , und als deren „Summe“ den Wert 1 _____ 1 – (‒1) = 1 _ 2 Den vermeintlichen „Summenwert“ 1/2 hat man damals sogar durch folgende „Erläuterung“ gestützt: Zwei Brüder erben einen wertvollen Edelstein. Sie können sich nicht einigen, wer in aufbewahren soll. So vereinbaren sie einen jährlichen Besitzwechsel. Ins- gesamt besitzt ihn also jeder der Brüder „zur Hälfte“: 1 – 1 + 1 – 1 + … = 1/2 Ebenso problematisch wie das Klammersetzen ist unter Umständen das Vertauschen der Reihenfolge der Summanden in einer unendlichen Reihe. So kann man durch geschicktes „Umordnen“ und Setzen von Klammern der obigen Reihe zB die „Summe“ 2 (oder jede andere ganze Zahl – Überøege! ) zuord- nen: 1 – 1 + 1 – 1 + 1 – 1 + 1 – 1 + 1 – 1 + … = = 1 + 1 – 1 – 1 + 1 + 1 – 1 – 1 + 1 + 1 – … = = 2 – (1 + 1) + (1 + 1) – (1 + 1) + (1 + 1) – … = = 2 – 2 + 2 – 2 + 2 – … = = 2 – (2 – 2) – (2 – 2) – … = 2 Die wissenschaftliche Untersuchung unendlicher Folgen und die Beschreibung ihres Grenzwertverhal- tens (Präzisierung des Grenzwertbegriffes) stellt historisch gesehen eine der größten Leistungen der Mathematik dar. Und eben dies werden wir in den nächsten beiden Jahren auch näher kennen lernen. Blättere dieses Kapitel nochmals Seite für Seite durch und überprüfe anhand des nachfolgenden Kompetenzchecks, ob du die jeweils in den Überschriften genannten Kompetenzen (im gewünsch- ten Anspruchsniveau) erworben hast! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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